Aktien scheinen teuer, aber nicht überbewertet
Die Aktienkurse in zahlreichen Ländern verzeichneten in den letzten Wochen immer neue Höchststände. Absolute Bewertungen der Aktien bewegen sich aufgrund der Kursrally im historischen Vergleich am oberen Ende. So lag das Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV), ein beliebter Maßstab zur Beurteilung der Märkte, beim Dax Ende vergangenen Jahres bei 20 und damit deutlich über dem historischen Durchschnitt. Das „Shiller-KGV“, eine Weiterentwicklung des Nobelpreisträgers Robert J. Shiller für den amerikanischen Markt, steht aktuell sogar bei 33. Nur in den Jahren 1929 und 2000 – also jeweils kurz vor heftigen Kurskorrekturen – lag es höher als heute. Das trübt die Freude der Anleger und weckt Ängste vor einer Überbewertung am Aktienmarkt. Doch sind diese Sorgen berechtigt?
Prinzipiell kann eine Beurteilung der Aktienbewertungen absolut, aber auch relativ zu anderen Anlageklassen wie beispielsweise Anleihen erfolgen. Die Betrachtung des KGVs zielt dabei auf die absolute Bewertung der Märkte im historischen Kontext ab. Aktuelle Aktienpreise werden bei dieser Kennzahl ins Verhältnis zu den erwarteten Unternehmensgewinnen gesetzt. Ein überdurchschnittlicher Wert ist dabei gleichbedeutend mit einer erhöhten Aktienbewertung. Momentan weisen sowohl entwickelte Märkte als auch Märkte der Schwellenländer KGVs auf, die teils deutlich über dem historischen Durchschnitt liegen. Die isolierte Betrachtung der absoluten KGVs lässt Aktien daher teuer erscheinen. Für die hohen absoluten Bewertungen gibt es jedoch gute Gründe.
Die Weltwirtschaft befindet sich in der Frühphase eines möglichen Konjunkturaufschwungs. Die zügige Erholung der Wirtschaft im dritten Quartal 2020 hat gezeigt, dass die Rettungsmaßnahmen der Fiskalpolitik ihren Zweck erfüllen und dass ein rasches Anspringen der Konjunktur auch nach dem Ende des zweiten coronabedingten Lockdowns möglich sein wird.
Darüber hinaus haben die Entwicklung eines Corona-Impfstoffes, die Wahl Joe Bidens zum amerikanischen Präsidenten und das Ende des Brexit-Dramas zu einer erheblichen Reduktion der politischen und wirtschaftlichen Abwärtsrisiken beigetragen. Das sollte die Investitionstätigkeiten der Unternehmen sowie den Konsum der Haushalte anfachen. Der Nachholbedarf ist groß: Allein die amerikanischen Haushalte haben – auch aufgrund der hohen staatlichen Transferzahlungen – im vergangenen Jahr zusätzliche Ersparnisse im Umfang von 1,4 Bill. US-Dollar angehäuft. All das dürfte zu einer deutlichen Erholung der Unternehmensgewinne beitragen und befeuert dementsprechend die Märkte.
Niedrige Zinsen unterstützen
Ein weiterer zentraler Faktor für die hohen Bewertungen von Aktien ist das nach wie vor niedrige Zinsniveau. Denn niedrige Zinsen können Aktien gleich über mehrere Kanäle positiv beeinflussen: Erstens ermöglichen sie Firmen, sehr einfach an günstiges Kapital zu kommen. Wachstumsprojekte können so leichter umgesetzt werden, und die Refinanzierungskosten sinken. Beides hilft den Unternehmensgewinnen. Zweitens erhöhen niedrige Zinsen den Barwert aller zukünftigen Zahlungsströme wie Gewinne und Dividenden – und damit auch den Wert von Aktien. Drittens spielt das Zinsumfeld bei der relativen Bewertung von Aktienmärkten eine wichtige Rolle. So steigern niedrige Renditen am Anleihemarkt direkt die relative Attraktivität von Aktien gegenüber Anleihen. Der Zusammenhang zwischen Aktien und Anleihen wird über die Aktienrisikoprämie abgebildet. Sie erfasst den Aufschlag auf einen risikolosen Zinssatz, den Investoren zur Übernahme des Aktienrisikos erhalten.
Gemessen an der Risikoprämie sind die meisten Aktien verglichen mit der Historie nach wie vor attraktiv bewertet. Ende Januar betrug die Aktienrisikoprämie in Deutschland 7,2% und lag damit weit über dem durchschnittlichen Niveau von 3,4%. Für andere Industrieländer zeigt sich ein ähnliches Bild. In den USA betrug die Risikoprämie 5,1% (Durchschnitt 4,0%), in Japan 4,2% (2,9%) und im Vereinigten Königreich 6,3% (5,6%). Der Hauptgrund sind die von den Notenbanken gemachten Niedrigzinsen, die im Zuge der Coronakrise durch die Ausweitung der Anleihekäufe nochmals stark zurückgingen.
In den Schwellenländern ist die Situation hingegen eine andere. Hier lagen die Risikoprämien unter dem historischen Durchschnitt, auch weil festverzinsliche Anlagen höhere Renditen als in den Industrieländern versprachen. Insbesondere chinesische Aktien wirken auch bei relativer Betrachtung teuer. Die Risikoprämie betrug zum Monatsende 5,2% und war damit weit vom historischen Durchschnitt von 9,3% entfernt. Historische und aktuelle Daten sind in China allerdings nur bedingt vergleichbar, da der Kapitalmarkt für ausländische Investoren erst in den letzten Jahren geöffnet wurde. Seitdem ist ein konstanter Rückgang der Risikoprämie in Richtung der Niveaus der Industrieländer zu beobachten.
Flexibilität bleibt wichtig
Die Aktienmärkte haben die Coronakrise hinter sich gelassen. Dafür gibt es gute Gründe: Einerseits dürfte sich die Wirtschaft nach dem aktuellen Lockdown rasch erholen, andererseits werden vor allem kurzfristige Zinsen bis auf Weiteres niedrig bleiben. Um den konjunkturellen Aufschwung und die Tragfähigkeit der Staatsschulden nicht zu gefährden, werden die Zentralbanken ihre ultraexpansive Geldpolitik auch in diesem Jahr beibehalten und die Zinsen durch Anleihekäufe drücken. Sollten sich keine weiteren Risiken wie eine Unwirksamkeit der Impfstoffe oder eine mangelnde Impfbereitschaft materialisieren, fehlt die fundamentale Basis, die eine nachhaltige Korrektur der Kurse auslösen könnte. Vor diesem Hintergrund scheinen Aktien heute zwar teuer, aber nicht überbewertet.
Das bedeutet aber nicht, dass es keine Kursschwankungen geben kann oder dass einzelne Sektoren eine zu hohe Bewertung aufweisen. Denn die Corona-Pandemie hat nach wie vor das Potenzial, zu starken Marktbewegungen zu führen. Anleger sollten daher weiterhin auf eine flexible und global diversifizierte Anlagestrategie Wert legen, um die sich bietenden Chancen effizient und risikokontrolliert wahrnehmen zu können.
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