IM INTERVIEW: TILMANN GALLER, J.P. MORGAN ASSET MANAGEMENT

"Aktien sind derzeit leicht teuer"

Stratege: Durch extrem niedrige Zinsen drohen Fehlallokationen auf breiter ökonomischer Basis

"Aktien sind derzeit leicht teuer"

Die kürzlich erreichten Rekordhöchststände am US-Aktienmarkt sorgen angesichts der sehr unsicheren ökonomischen Aussichten in Teilen des Marktes für Sorgenfalten. Der wieder gesunkene Ölpreis schürt die Befürchtungen hinsichtlich eines Rückschlags zusätzlich. Tilmann Galler, Kapitalmarktstratege und Portfoliomanager bei J.P. Asset Management, hält Aktien für leicht teuer, aber in relativer Betrachtung für attraktiv.- Herr Galler, der US-Aktienmarkt hat Rekordhöhen erreicht, der Dax in dieser Woche sein Jahreshoch nur knapp verfehlt. Manchen bereiten die aktuellen Kurshöhen Sorgen. Wie sieht Ihre Einschätzung aus?Die amerikanische Wirtschaft erholt sich mit einem sehr langsamen Tempo. Das Wachstum beträgt nur 2,1 %, und dennoch ist die Arbeitslosenrate auf weniger als 5 % gefallen. Das ist ein Hinweis darauf, dass das Trendwachstum der USA seit der Wirtschaftskrise deutlich niedriger ist. Statt der gewohnten 3 % sind es eher 1,5 bis 1,8 %. Wir befinden uns nach 85 Monaten Expansion in einem sehr reifen Stadium des Konjunkturzyklus, was Fragen nach der Bewertung von Risiko-Assets aufwirft. Hier kommen die Notenbanken ins Spiel. Der risikolose Zins existiert fast nicht mehr. Auch die Kapitalkosten sind sehr niedrig. Das treibt die Bewertungen, in denen die Kapitalkosten einfließen, absolut betrachtet auf ein hohes Niveau.- Wie sehen die relativen Bewertungen aus?Aus Sicht der Aktienmärkte gut. Selbst in den USA, wo vergleichsweise viele Aktienrückkäufe getätigt werden, ist die Dividendenrendite höher als die Anleiheverzinsung. In Deutschland haben wir eine einmalig weite Schere zwischen Dividendenrenditen und der Verzinsung von Bundesanleihen. Legt man das Shiller-KGV zugrunde, ist der europäische Aktienmarkt relativ betrachtet sehr günstig.- Und absolut betrachtet?Unserer Meinung nach sind Aktien derzeit leicht teuer. Was die Renditeerwartungen betrifft, sollte man kleinere Brötchen backen als früher. Ein mittlerer einstelliger prozentualer Bereich ist sicherlich eine vernünftige Vorstellung. Aber: Aktien sind derzeit zumindest fundamental relativ attraktiv, auch zu Unternehmensanleihen. Trotz der neuen Höchststände und des weit fortgeschrittenen Konjunkturzyklus sind wir für Risikoaktiva zurzeit leicht positiv eingestellt.- Wie beurteilen Sie die Aussichten für die Unternehmensgewinne?Wir sind für die nächsten zwei bis drei Quartale leicht zuversichtlich. Wenn der Ölpreis nicht stark weiter sinkt, wird es im Energiesektor wieder bessere Ergebnisse geben. Ein Risiko sehen wir allerdings in der schwachen Produktivitätsentwicklung in den USA. Das birgt unserer Einschätzung nach höhere Risiken als der Brexit. Wir haben Lohnwachstum in dem zunehmend eng werdenden Arbeitsmarkt, das heißt, entweder es kommt zu einem Margeneinbruch oder zu einer Wende am Arbeitsmarkt. Wenn das Pendel in den USA umschlägt, wird es für Risikoaktiva ungemütlich.- Sie erwarten eine bessere Gewinnentwicklung in der amerikanischen Energiebranche. Wie sehen denn die Prognosen Ihres Hauses für den Ölpreis aus?Nach unserer Meinung wird es keine V-förmige Erholung des Ölpreises geben. Nach der Bewegung von 27 bis auf mehr als 50 Dollar beginnt der Ölmarkt sich auszubalancieren. Wir sind derzeit noch in einer Art Überschussmarkt. 40 bis 50 Dollar ist ein Bereich, der eine gewisse Schwelle bedeutet. Bei 40 Dollar und darunter wird die Förderung für viele Shale-Produzenten unattraktiv. Um 50 Dollar ändert sich das. Wir haben gesehen, dass der von Baker Hughes veröffentlichte Rig Count, also die Zählung der Ölförderanlagen, um 50 Dollar seinen Rückgang unterbrochen hat beziehungsweise die Zahl der Anlagen wieder leicht gestiegen ist. Was nach dem Fall unter 60 Dollar unterschätzt wurde, ist das Potenzial der Shale-Förderer, Kosten zu senken. 60 Dollar pro Barrel ist nur ein Durchschnitt der Förderkosten. In Abhängigkeit von den Vorkommen sind manche Förderer auch unter 40 Dollar profitabel. Ab 50 Dollar kommt die US-Produktion zurück. Das deckelt den Preis. Wir gehen für die kommenden Monate von einer volatilen Seitwärtsbewegung aus.- Was erwarten Sie längerfristig?Mittelfristig wird es zu einem Anstieg des Ölpreises kommen, weil es weltweit zu einem enormen Rückgang der Investitionen gekommen ist. In den USA konnte man das sehr gut an den jüngsten BIP-Zahlen nachvollziehen, wo die Investitionen in die Energieinfrastruktur im zweiten Quartal 2016 von annualisiert 96 Mrd. auf 48 Mrd. Dollar p.a im Vergleich zum Vorjahr gefallen sind. Das wird auf Sicht von drei bis fünf Jahren zu einer gewissen Verknappung auf der Angebotsseite führen, es sei denn, es käme zu einer schweren Krise, durch die die Nachfrage stark sinkt. In den zurückliegenden Jahren ist die Nachfrage jedoch kontinuierlich gestiegen. Das Problem liegt eindeutig auf der Angebotsseite, getrieben von der Shale-Förderung, einer dysfunktionalen Opec und dem wieder an den Markt zurückkehrenden Iran. Wir haben nie geglaubt, dass die Ölpreisschwäche ein Hinweis auf eine schwere Wirtschaftskrise ist, wie das Teile der Marktteilnehmer getan haben.- Was halten Sie von der ultralockeren Geldpolitik?Prinzipiell ist die Gefahr groß, dass der extrem niedrige Preis des Geldes auf breiter ökonomischer Basis zu massiven Fehlallokationen führt. Für uns ist es unverständlich, dass die US-Notenbank so große Schwierigkeiten hat, den Zins zu erhöhen, obwohl die Wirtschaft stetig gewachsen ist. Die eigentlich als vorübergehend gedachten Notmaßnahmen wie die Wertpapierkäufe und die Niedrigzinsen haben sich institutionalisiert. Japan und Europa drehen das Rad sogar noch weiter. Wir haben das Gefühl, dass immer mehr Stimuli benötigt werden, um noch einen nennenswerten Effekt zu erzielen. Einige geldpolitische Konzepte können auch in Frage gestellt werden. Wie realistisch ist das 2-%-Ziel für die Inflation, wenn das Trendwachstum niedrig ist? Wir sehen die Gefahr von Vermögenspreisblasen und sind auch überzeugt, dass die Fed den Zins problemlos weiter anziehen kann, ohne dass es zu sehr negativen Auswirkungen kommt.- Welches Ausmaß ist denn verkraftbar?Zinsanhebungen haben durchaus auch positive Auswirkungen. Eine Anhebung um 1 % bringt den US-Sparern über Zinseinnahmen per saldo 63 Mrd. Dollar p.a. Dabei sind die negativen Effekte auf Vermögenspreise und Investitionen noch gering. Das erste Prozent beziehungsweise die erste Phase hat relativ geringe Wirkungen. Erst danach kommt es zu einem bremsenden Effekt.- Welche negativen Effekte haben die Niedrigzinsen?Sie animieren zu Verhalten wie dem Financial Engineering, die der Produktivität überhaupt nicht zugutekommen. So werden Schulden aufgenommen, um Aktienrückkäufe zu tätigen. Außerdem wird der negative Zinseszinseffekt von Jahr zu Jahr größer. Die sozialen Ungleichgewichte werden vergrößert, die Pensionslücke weitet sich zunehmend aus. Man verabreicht jetzt kurzfristig eine Medizin, halst sich aber langfristig Probleme auf. Um im Alter ein gewisses Einkommen zu erzielen, müssen Anleger mit immer größeren Beträgen sparen. Damit geben sie aber auch weniger aus.- Bestehen Aussichten auf eine Wende in der globalen Geldpolitik?Es ist unwahrscheinlich, dass sich dies in absehbarer Zeit grundlegend ändern wird. Die Führungsgremien der Zentralbanken sind in hohem Ausmaß von Neokeynesianern besetzt. Daher ist kaum zu erwarten, dass sich eine konservativere Linie durchsetzt. Für den Anleiheanleger bedeutet das, dass er trotz der niedrigen Zinsen auf der Durationsseite nicht viel zu befürchten hat.—-Das Interview führte Christopher Kalbhenn.