GASTBEITRAG

Aktienanleger sollten auf die Value-Strategie setzen

Börsen-Zeitung, 19.8.2015 Wenn die Geschichte sich nicht wiederholt, wohl aber reimt, wie Mark Twain wusste, haben wir es an der Börse derzeit mit einem ungewöhnlichen Versmaß zu tun, denn der laufende Bullenmarkt kommt bald ins achte Jahr. Neben...

Aktienanleger sollten auf die Value-Strategie setzen

Wenn die Geschichte sich nicht wiederholt, wohl aber reimt, wie Mark Twain wusste, haben wir es an der Börse derzeit mit einem ungewöhnlichen Versmaß zu tun, denn der laufende Bullenmarkt kommt bald ins achte Jahr. Neben der Dauer hätte auch das Ausmaß der Kursgewinne seit den Tiefstständen von 2008 viele konservative Anleger inzwischen längst zum Aus- bzw. Umstieg verleitet, gäbe es auch nur halbwegs attraktive Alternativen. Cash als AlternativeEs sollte aber nicht die vermeintliche Alternativlosigkeit sein, die ein Engagement in dem ehrlichsten aller Risiko-Assets begründet, denn gegenüber dem Verbleib in einer Blase wäre Kasse sicher immer eine gute Alternative. Nur die Frage der Bewertung, der relativen Bewertung kann daher Aufschluss geben, wie lohnend bzw. verantwortbar eine Investition im Aktienmarkt an dieser Stelle des gegenwärtigen Zins- und Konjunkturzyklus aus fundamentaler Sicht ist. Auch für die Wahl der für die nächsten Monate optimalen Anlagestrategie lassen sich aus Bewertungsvergleichen und historischen Erfahrungen wertvolle Empfehlungen ableiten.Europäische Aktien sind nach einem Kursplus von 150 % im Schnitt bei einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (2015er Gewinne) von knapp 15,6 angelangt. Dieser erhöhte, aber nicht schwindelerregende Wert relativiert sich deutlich, wenn man ihn im Verhältnis zu anderen, durch die Liquiditätsschwemme inflationär gestiegenen Bewertungen von Financial Assets sieht. Die beispiellosen Tiefstände der Anleiherenditen am und unter dem Nullpunkt spiegeln auch nach dem gewaltigen Trendausbruch vom April die strukturelle Ausnahmesituation der Zentralbankpolitik und die deflationären Kräfte in völlig anderer Weise wieder als etwa die Dividendenrenditen europäischer Aktien von durchschnittlich 3,5 % oder die Ertragsrendite (inverses KGV) in Höhe von 6,4 %. Trotz des vorgenannten Alters des laufenden Zyklus stehen deutlichere Ertragssteigerungen der Unternehmen dabei erst noch an. Zyklus- und währungsbedingtes Umsatzwachstum, Margenverbesserungen und Releveraging lassen für die nächsten Monate eine weitere Verbesserung der Ertrags- und Dividendenstärke der Unternehmen erwarten. Höhere ErträgeEs ist erst die erste Phase des Bullenmarktes, die Bewertungsexpansion, die derzeit zu einem Ende kommt. Unserer Analyse der aggregierten Ertragserwartungen zufolge werden europäische Aktien in den nächsten Monaten deutliche Ertragssteigerungen erreichen können und aufgrund der moderaten Bewertungen auch weitere Kursgewinne im zweistelligen Prozentbereich auslösen. Nicht nur relativ zu Renten, auch im Vergleich zum US-Markt spricht vieles für Europas Aktien. Die Bewertungen dort sind merklich höher, unser Zinszyklus bleibt erwartungsgemäß zwei Jahre länger stimulierend, und auch der schwache Euro begünstigt hiesige Unternehmen im Verhältnis zu US-Gesellschaften.Die Kursgewinne der Bewertungsexpansion der vorigen Quartale wurden dabei marktbreit und noch vergleichsweise undifferenziert erzielt. Das wechselhafte Aufkommen und Abklingen konjunktureller oder systemischer Sorgen prägten das Gesamtbild. In diesem sogenannten Risk On/Risk Off Regime sind die konkreten Ertragschancen des Einzelunternehmens für das Gros der Investitionsentscheidungen zunächst nur in geringem Umfang ausschlaggebend. Dies ändert sich typischer Weise in der zweiten Hälfte von Aktienbullenmärkten. Die Performance der Titel wird dann zunehmend von den relativen Bewertungen und der Erfüllung der Ertragserwartungen abhängen. Für den Übergang in diese differenzierte Phase spricht der erreichte und überwiegend eingepreiste Konsens über die konjunkturelle Stabilität. Als Startsignal könnte sich auch die jüngste Auflösung von Tail- oder Event-Risiken erweisen. Das Grexit-Grauen hat seinen Höhepunkt überschritten, im Iran stehen die Zeichen auf Entspannung, die Überdruckventile am Bondmarkt haben funktioniert. Einzig über die Sensibilität des ersten Zinsschrittes der Fed wird noch zu spekulieren sein. Ersatz für RententitelWas aber werden Investoren sehen, wenn sie in europäischen Aktien engagiert bleiben, aber genauer hinschauen wollen? Es sind die üblichen Verdächtigen: Value-Titel! Für defensive Value-Titel mit hoher Ertrags- und Dividendenkonstanz spricht im Niedrigzinsumfeld ihre Popularität als Rentenersatz. In Phasen steigender Anleiherenditen sollten die zyklischen Value-Titel die Dividendenstars überholen. Wer auf den Eintritt der Zinswende nicht wetten will, sollte die entscheidenden fundamentalen Faktoren mit einer systematischen Value-Strategie im Auge behalten, die ihren Fokus automatisch anpasst.—-Tobias Klein, Geschäftsführer bei First Private Investment Management