Amazon steht vor einer Neubewertung
Von Dieter Kuckelkorn, Frankfurt
Technologieaktien rund um den Globus stehen derzeit deutlich unter Druck. Dies gilt ebenso für die ganz großen amerikanischen Titel und dort auch für Amazon. Die Aktie hat im bisherigen Jahresverlauf rund 37% an Wert eingebüßt, womit sie noch schwächer abschnitt als der Nasdaq Composite mit seinem Minus von knapp 28% und der amerikanische Benchmark-Index S&P500 mit einem Abschlag von 18%. Die hoch bewerteten Technologieaktien leiden derzeit unter den steigenden Zinsen, da die Anlage in sicheren Anleihen wieder attraktiver wird, während den Anlegern die Risiken der Technologieaktien wieder bewusster werden. Bei einigen Aktien aus dem Bereich Technologie bzw. Internet kommen allerdings noch weitere Belastungsfaktoren hinzu. Eine dieser Aktien ist Amazon. Dass die Anleger derzeit diesen Titel besonders stark meiden, liegt unter anderem daran, dass das Unternehmen Ende April einen Quartalsbericht vorgelegt hat, der als äußerst enttäuschend empfunden wurde. Der Aktienmarkt quittierte die Zahlen und den Ausblick mit einem Kurssturz um 14%.
Enttäuschendes Quartal
Negativ wurde aufgenommen, dass Amazon für das erste Quartal ein Umsatzwachstum von gerade einmal 7% meldete. Dies ist der schwächste Wert seit 20 Jahren. Wie die Prognose für das zweite Quartal zeigt, ist die Schwäche kein einmaliger Ausrutscher, denn statt der von den Analysten bislang im Durchschnitt erwarteten Erlöse von 125 Mrd. Dollar geht das Unternehmen von lediglich 116 bis 121 Mrd. Dollar aus. Im Onlinehandel war im ersten Quartal ein Rückgang von 3,3% zu verkraften, wobei sich Nordamerika noch als Stütze erwiesen hat, die internationalen Erlöse gaben jedoch um 6,2% nach. Während der Onlinehandel also erhebliche Schwächen zeigt, erweist sich wieder einmal das Cloud-Geschäft von Amazon Web Service (AWS) als die eigentliche Ertragsstütze mit einem Umsatzanstieg von 37%. Die Erlöse der Sparte machen inzwischen 18,4 Mrd Dollar von insgesamt 116,44 Mrd. Dollar aus. Ohne AWS wäre das Amazon-Quartalsergebnis noch deutlich schlechter ausgefallen.
Unter den Erwartungen
Vor allem aber sind die Erlöse deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Das operative Ergebnis brach im Vorjahresvergleich um 59% ein, mit 3,67 Mrd. Dollar unterbot es die Markterwartung von 5,42 Mrd Dollar sehr deutlich. Unterm Strich ergab sich sogar ein Verlust je Aktie von 7,56 Dollar, der allerdings geringfügiger ausfiel als mit 8,40 Dollar befürchtet. Dies ist der erste Verlust seit dem Jahr 2015. Auch für das laufende zweite Quartal sieht der Ertragsausblick nicht gut aus. Derzeit wird eine breite Spanne zwischen einem operativen Verlust von 1 Mrd. Dollar und 3 Mrd. Gewinn prognostiziert, was sich allerdings mit einem operativen Ertrag von 7,7 Mrd. Dollar im gleichen Vorjahreszeitraum vergleicht.
Der Hauptfaktor des haushohen Verlusts im ersten Quartal ist eine gigantische Abschreibung von 7,6 Mrd Dollar auf die Beteiligung am Elektroautohersteller Rivian. Rivian ist ein weiteres der zuvor völlig überbewerteten amerikanischen Technologieunternehmen, aus dem derzeit die Luft abgelassen wird. Vor ein paar Tagen lief die Stillhaltefrist der Altaktionäre aus dem Börsengang vom November ab, was die Aktie mit einem Kurssturz von 19,3% quittierte. Es wurde spekuliert, dass sich die beiden Rivian-Großaktionäre Ford und Amazon von den Anteilen trennen könnten oder dies schon getan haben, wobei die Wahrscheinlichkeit einer Trennung im Fall von Ford als größer angesehen wird. Rivian hat derzeit wegen Lieferkettenproblemen erhebliche Schwierigkeiten, seine Produktion hochzufahren. Die Rivian-Aktie kletterte kurz nach dem Börsengang bis auf 179 Dollar, derzeit notiert sie mit 20,60 Dollar.
Der erfolgsverwöhnte New-Economy-Wert Amazon leidet derzeit unter Problemen, wie sie die Old Economy schon lange kennt. So belasten die enorm gestiegenen Treibstoffkosten das Unternehmen. Wie den jüngsten Inflationsdaten zu entnehmen ist, liegen die Energiekosten in den USA um satte 30% über Vorjahresniveau – ein Ergebnis des Ukraine-Kriegs, vor allem aber der von US-Präsident Joe Biden stark vorangetriebenen westlichen Sanktionen gegen Russland.
Probleme am Arbeitsmarkt
Amazon hat zudem erhebliche Probleme, ausreichend Arbeitskräfte zu finden, was vor allem daran liegt, dass es sich Amazon mit Blick auf seine Margen und die Ergebnisansprüche der Anleger nicht leisten kann, auskömmliche Löhne zu zahlen. Angesichts der nach wie vor vorhandenen Vollbeschäftigung in den USA bedeutet dies, das Arbeitskräfte lieber woanders arbeiten, etwa im Logistikbereich bei UPS, wo die starke Präsenz von Gewerkschaften eben auch sicherstellt, dass mit Blick auf die höheren Löhne genügend Bewerber für vakante Stellen vorhanden sind. Amazon hingegen bekämpft den Aufbau von lokalen Gewerkschaften nach Kräften. Erst vor wenigen Tagen wurden im Bundesstaat New York von Amazon sechs Manager gefeuert, was nach Ansicht von Beobachtern mit der Gründung einer gewerkschaftlichen Vertretung im Lagerhaus von Staten Island zusammenhängt. In den kommenden Monaten, vor allem aber im Winterhalbjahr könnte sich die Lage für Amazon weiter verschlechtern, weil in den wichtigsten weltweiten Märkten des Konzerns die Kaufkraft der Konsumenten aufgrund der drohenden Rezession und der hohen Inflation schwächer wird.
Hohe Bewertung
Vor diesem Hintergrund ist die Amazon-Aktie mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) auf Basis der Ergebnisse der vergangenen zwölf Monate von 49,8 immer noch hoch bewertet. Bislang stört dies die Analystengemeinde zwar noch nicht: Von 52 Banken raten nicht weniger als 42 zum Kauf der Aktie, während sieben Häuser den Titel zumindest mit „Overweight“ einstufen. Es gibt nur zwei Analysten, die lediglich zum Halten der Aktie raten und eine einzige Verkaufsempfehlung. Sollten sich aber die Perspektiven für den vom Konsum angetriebenen Teil der US-Wirtschaft wie erwartet weiter verschlechtern, ist vermutlich auch bei vielen Analysten eine Neubewertung der Amazon-Aktie angesagt.