GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (100)

Anlegen im nächsten Jahrzehnt

Börsen-Zeitung, 24.12.2019 Vor die Wahl gestellt, Anlage- oder Geschenktipps für die nächste Dekade geben zu müssen, ist Letzteres sicherlich unverfänglicher, wäre dann aber in dieser Zeitung wohl fehl am Platze. Auch kurz vor Weihnachten....

Anlegen im nächsten Jahrzehnt

Vor die Wahl gestellt, Anlage- oder Geschenktipps für die nächste Dekade geben zu müssen, ist Letzteres sicherlich unverfänglicher, wäre dann aber in dieser Zeitung wohl fehl am Platze. Auch kurz vor Weihnachten. Vielleicht lässt sich beides kombinieren, denn vor einer bloßen Investmentempfehlung für die 2020er Jahre haben wir gehörig Respekt. Dazu reicht ein Blick zurück auf die vergangene Dekade.Im Jahr 2010 war der Höhepunkt der Finanzkrise eben erst ausgestanden, die Stimmung war mies. Besonders in Europa, denn hier folgte sogleich die Euro-Krise. Austerität und Entschuldung, Angst um den Zusammenhalt der Eurozone und Rekordarbeitslosigkeit gaben wenig Anlass davon auszugehen, dass sich der Dax bis 2020 verdoppeln und der S&P 500 sich mehr als verdreifachen würde. Rekordlanger AufschwungSo gut wie jede Vermögensklasse entwickelte sich prächtig. Getragen auch von einem rekordlangen Wirtschaftsaufschwung, dem zwar die ganz große Dynamik früherer Jahre fehlte, der dafür aber auch keine nachhaltigeren Einbrüche verkraften musste. Nicht zu kalt und nicht zu heiß, wir nannten es den Schildkrötenzyklus. Doch dieser Zyklus hat seinen Preis, nicht nur einen:1. Die Zinsen, nominal wie real, stehen heute unter oder nahe Null. Das hat mehrere Implikationen: Eine Anleiherally dieses Ausmaßes werden wir auf lange Zeit nicht mehr sehen, und das Anlageverhalten ändert sich in so einem Umfeld, in dem es quasi keinen positiven risikolosen Zins mehr gibt, nachhaltig.2. Zwar mag in vielen Ländern die Privatverschuldung, gemessen am BIP, rückläufig gewesen sein, aber die steigende Staatsverschuldung hat das mehr als kompensiert, der aggregierte Verschuldungsgrad wuchs.3. Die zwei größten Schuldenmacher sind, passenderweise, die zwei größten Wirtschaftsnationen. Ihr Wirtschaftswachstum wird viel bewundert, doch das zu erreichen erfordert einen gehörigen Aufwand: Chinas Haushaltsdefizit wird dieses Jahr in etwa dem Wirtschaftswachstum (rund 6 % vom BIP) entsprechen, während die USA sich mit fast 5 % des BIP neuverschulden müssen, um ein Wachstum von knapp über 2 % darzustellen. Dazu kommt, dass in beiden Ländern der demografische Rückenwind in den kommenden Jahren nachlassen dürfte.Darüber können die Aktionäre großer amerikanischer Technologiewerte wohl nur müde lächeln. Doch bei allem Respekt vor den Silicon Valley-Giganten sollte man die US-Wirtschaft auch nicht verklären: Die von Donald Trump initiierten Steuererleichterungen für Konzerne führen zu entsprechenden Steuerausfällen ohne Kompensation durch stärkeres Wachstum. Der Abbau “lästiger” Regulierungen hat, wie medienwirksame Unfälle in der amerikanischen Industrie zeigen, auch seine Grenzen. Eine von Konventionen und Verträgen gekennzeichnete Politik kurzerhand durch hemdsärmelig eingefädelte “Deals” zu ersetzen, strebt derzeit wohl auch Großbritannien an.Dabei sind dies nur zwei Länder von vielen, in denen es trotz unverkennbarer wirtschaftlicher Fortschritte in der vergangenen Dekade einen wachsenden unzufriedenen Bevölkerungsteil gibt. So unzufrieden, dass er sich vermehrt mit demokratie-ablehnenden, national-protektionistischen oder auch sozialistischen Ideen anfreunden kann. Dieses Thema wird uns im kommenden Jahrzehnt weiter begleiten. Dass dies die Börsen unberührt lässt, kann spätestens seit dem Brexit keiner mehr behaupten: Fast alle Vermögensklassen Großbritanniens hinken seit dem Referendum den europäischen Märkten hinterher. Außerdem zeigte nach der Wahl die Rallye jener Werte, die sich auf dem Nationalisierungsradar Jeremy Corbyns befanden, wie ernst die Aktionäre diese Gefahr genommen haben. Aktionären deutscher Unternehmen muss man ohnehin den Einfluss der Regierung nicht erst verdeutlichen. Seien es die Versorger, die Automobilhersteller oder Berliner Wohnungsunternehmen. Gewinn liegt im EinkaufAls Anleger darf man die großen politischen, gesellschaftlichen und demografischen Trends und Umbrüche nie aus den Augen verlieren. Sie entscheiden letztlich auch darüber, inwieweit sich die Entwicklungen an den Kapitalmärkten vergleichen lassen und wiederholen. Muss etwa auf so ein auskömmliches Jahrzehnt, oder, konkreter, auf ein so starkes Börsenjahr, mit einer Korrektur gerechnet werden? Die Historie zeigt, dass selbst auf ein Jahr mit über 20 % Plus eher ein weiteres gutes Jahr als eine Korrektur folgte. Auch wir rechnen mit positiven Renditen im kommenden Jahr. Gleichzeitig rechnen wir aber nicht mit einer Wiederholung der vergangenen Dekade. Denn auch der Aktionär weiß: Der Gewinn liegt im Einkauf. Und wer jetzt kauft, tut dies am oberen Rand des historischen Bewertungsbandes. Allein die Entwicklung der Anleiherenditen macht die vergangene Dekade zum Sonderfall. Im kommenden Jahrzehnt werden weder Aktien noch Anleihen, und wohl auch nicht Immobilien, annähernd die Renditen der 2010er Jahre erreichen.Wie tragisch man das findet, hängt auch davon ab, ob man seine Rendite absolut oder relativ zu einem Bezugspunkt betrachtet. Letzterer ist klassischerweise die Staatsanleiherendite. Wenn diese nun nahe Null liegt, ist der nächste natürliche Bezugspunkt, zumal für Privatanleger, Sichteinlagen. Und fallen auf diese auch negative Zinsen an, und fällt die Bargeldhortung aus praktischen Erwägungen als Alternative aus, ist bald auch für den Privatanleger der Bezugspunkt ein negativer Zins. Und damit ist allein schon ein Werterhalt, etwa über eine kurzlaufende Unternehmensanleihe, ein relativer Gewinn. Mehrere MandateBeim Thema Negativzins sind wir auch schon fast beim Schenken angekommen. Die EZB möchte mittels Negativzins Unternehmen und Haushalte gleichermaßen dazu animieren, zu investieren und zu konsumieren, statt zu sparen. Der Wirtschaft zuliebe. Nun hat die neue EZB-Präsidentin Christine Lagarde bereits angedeutet, dass sie mehrere Mandate verfolgen möchte: Preisstabilität, soziale Gleichheit und Klimaschutz. Das wird ein ordentlicher Spagat: den Konsum animieren, ohne dabei den ökologischen Fußabdruck zu erhöhen. Hier könnte die Lösung unseres Erachtens einmal mehr die Dienstleistung sein. Im Vergleich zu einem neuen SUV sind sie deutlich ressourcenschonender. Etwa Kunst, Kultur, Beratung. Ein Ölporträt oder ein Wohnzimmerkonzert als Weihnachtsgeschenk verbrauchen deutlich weniger CO2 als das neue Handy oder auch das Billig-Textil. Aus gesellschaftspolitischer Perspektive gäbe es sogar einen Weg, Ressourcenschonung und politische Stabilität in einem zu fördern: durch flächendeckende Investition in humanistische Bildung. Das dürfte unserer Meinung sogar mehr als eine segensreiche Rendite einbringen. Stefan Kreuzkamp, Chefanlagestratege DWS Zuletzt erschienen: Nachhaltig in Schwellenländer investieren (99), BNP Paribas Börsen-Hausse mit kleinen Schönheitsfehlern (98), M.M. Warburg Die Globalisierung hat ihren Zenit überschritten (97), Berenberg Bank