IM INTERVIEW: CARSTEN KLUDE, M.M. WARBURG & CO

"Aus einem ,lower for longer` wurde ein ,low forever'"

Der Chefvolkswirt über Schuldenanstieg in der Eurozone, die Aktivitäten der EZB, die Aussichten des Dax und das noch viele Jahre anhaltende Niedrigzinsumfeld

"Aus einem ,lower for longer` wurde ein ,low forever'"

Die Europäische Zentralbank (EZB) finanziert laut Carsten Klude, Chefvolkswirt bei M.M. Warburg & Co, den enormen Schuldenanstieg in der Eurozone. Höhere Leitzinsen sind auf Jahre nicht in Sicht. Herr Klude, wann steht der Dax bei 15 000 Punkten?Wenn sich die Entwicklung der vergangenen drei Monate einfach fortschreiben ließe, könnten wir im Frühherbst diese Marke erreichen. Nicht nur der Dax, sondern auch andere Aktienmärkte haben sich von den Einbrüchen im März gut erholt. Wie beurteilen Sie die gegenwärtige Verfassung der globalen Aktienmärkte?Die Wirklichkeit sieht in der Tat etwas komplizierter aus. Einerseits gehen die meisten Ökonomen davon aus, dass wir 2020 die schwerste Rezession seit fast 100 Jahren erleben werden. Mit den wirtschaftlichen Fundamentaldaten lässt sich die derzeitige Aktienmarktrally also kaum begründen. Andererseits haben die Notenbanken, allen voran die US Federal Reserve, aber auch die EZB, eine nie dagewesene expansive Geldpolitik implementiert und die Märkte mit Liquidität geflutet. Dies diente primär dem Zweck, eine neue Finanzmarktkrise zu verhindern. Allerdings haben viele Marktteilnehmer das Verhalten der Zentralbanken so interpretiert, dass diese mit aller Macht die Kurse an den Aktien- und Anleihemärkten stabilisieren wollen, womit im Endeffekt der größte Put aller Zeiten geschaffen wurde. Die Covid-19-Krise hat die Weltwirtschaft arg in Mitleidenschaft gezogen. Auch Europa leidet heftig. Wann rechnen Sie damit, dass das Schlimmste überstanden sein wird?Die meisten Frühindikatoren legen nahe, dass der wirtschaftliche Tiefpunkt im Mai durchschritten worden ist. Die seit Mitte Mai erfolgte schrittweise Lockerung der wirtschaftlichen Einschränkungen spiegelt sich beispielsweise in der Verbesserung der jüngsten Einkaufsmanagerindizes oder auch in den jüngsten Zahlen zum Ifo-Geschäftsklimaindex wider. Dennoch kann man für das zu erwartende Wirtschaftswachstum in diesem Moment nur grobe Schätzungen abgeben, weil noch nicht klar ist, wie tief der Abschwung ausfällt, wie schnell sich die Realwirtschaft wieder erholen wird oder ob es vielleicht eine zweite Infektionswelle geben wird, die eine erneute Schließung der Wirtschaft nach sich ziehen könnte. Bildlich gesprochen geht es uns wie einem Turmspringer, der nicht genau weiß, ob er auf dem 3- oder dem 10-Meter-Brett steht. Doch dieses Wissen ist entscheidend, um einschätzen zu können, wie tief man in das Wasser eintauchen muss und wann man wieder an die Oberfläche kommen wird. Wie stark es die Unternehmen – auch in Deutschland – getroffen hat, werden wir mit den Zahlen zum zweiten Quartal sehen, also ab Juli. Stellen Sie sich auf desaströse Quartalszahlen und düstere Ausblicke ein?Die Quartalszahlen der Unternehmen werden natürlich den wirtschaftlichen Absturz im zweiten Quartal widerspiegeln. Allerdings haben die Analysten ihre Gewinnerwartungen schon deutlich nach unten angepasst, so dass wir nicht davon ausgehen, dass hier noch mit größeren negativen Überraschungen zu rechnen ist. Wichtiger werden tatsächlich die Ausblicke der Unternehmen sein. Nachdem mit den Q1-Zahlen viele Firmen kaum noch konkrete Erwartungen formuliert haben, dürfte dies nun anders werden. Mit der Erholung der Frühindikatoren und der konjunkturellen Bodenbildung sollten die meisten Unternehmen in der Lage sein, einen konkreten Ausblick für die zweite Jahreshälfte und für 2021 zu wagen – natürlich immer an die Bedingung geknüpft, dass es nicht zu einem erneuten Lockdown kommen wird. Dann wird sich zeigen, ob die Erwartungen der Unternehmensanalysten nicht doch zu optimistisch sind. Rechnen Sie in den kommenden Monaten mit einer deutlichen Zunahme der Unternehmensdefaults?Alles andere wäre sicherlich eine große Überraschung, trotz der großzügigen Finanzspritzen der Regierungen. Da viele Firmen in der Krise hohe Schulden aufgetürmt haben, dürften die Ratings unter Druck bleiben. Die Konsequenz wird wohl auch sein, dass sich viele Firmen künftig mit Investitionen zurückhalten werden, was wiederum schlecht ist für deren künftiges Wachstumspotenzial. Welche Branchen wird es besonders heftig treffen, wer ist krisenresistenter?Besonders betroffen dürften bei uns beispielsweise Unternehmen aus der Automobilzulieferindustrie sein, in den USA dagegen eher Energieunternehmen. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat PEPP jüngst volumenmäßig ausgeweitet und zeitlich bis Juni 2021 verlängert. Reicht das oder stellen Sie sich darauf ein, dass die EZB nachlegt?Ich gehe davon aus, dass das PEPP zunächst nicht weiter aufgestockt werden wird. Den heutigen Prognosen zufolge wird die Staatsverschuldung in der Eurozone in diesem Jahr um rund 1 200 Mrd. Euro zunehmen. Seit dem Beginn des PEPP im April 2020 hat die EZB pro Woche Anleihen in einem Volumen von gut 25 Mrd. Euro gekauft, davon zu 80 % Staatsanleihen, zu 15 % Commercial Paper und zu 5 % Unternehmensanleihen. Behält sie diese Aufteilung bei, würden von den gesamten 1 350 Mrd. Euro des PEPP 1 080 Mrd. für Käufe von Staatsanleihen verwendet. Hinzu kommen die monatlichen Käufe im Rahmen der Asset Purchase Programme (APP), die sich in diesem Jahr auf 360 Mrd. Euro belaufen. Das ursprüngliche Volumen lag bei 20 Mrd. Euro pro Monat, was im März aufgestockt wurde um weitere 120 Mrd. Euro bis zum Jahresende. Da das APP in den vorigen Monaten ebenfalls zu rund 75 % für den Ankauf von Staatsanleihen verwendet wurde, stehen insgesamt mehr als 1 300 Mrd. Euro bereit, mit denen die EZB Staatsanleihen kaufen wird. Et voilà, damit ist die Finanzierung der gesamten Neuverschuldung in der Eurozone gesichert. Ein Schelm, der hier an monetäre Staatsfinanzierung denkt. Für den Fall der Fälle hat die Notenbank allerdings weitere geldpolitische Maßnahmen in Aussicht gestellt. Reichen die fiskalischen Maßnahmen in Deutschland aus, um die Krise zu bewältigen?Die Politik hat im Unterschied zu früheren Krisen sehr schnell und beherzt reagiert. Das war sicherlich eine reife Leistung, die die Regierung hier abgeliefert hat. Für den Moment gehe ich auch davon aus, dass sich diese Maßnahmen als ausreichend erweisen werden. Deutschland hat zum Glück aufgrund seiner soliden Haushaltsführung der vergangenen Jahre noch Spielraum nachzulegen, wenn es notwendig sein sollte. Ist vor dem wirtschaftlichen Hintergrund das Umfeld aus Niedrig-, Null- und Negativzinsen weiterhin intakt?Diese Frage ist definitiv mit Ja zu beantworten. Mehr denn je ist davon auszugehen, dass die Niedrig- beziehungsweise Nullzinsphase noch viele Jahre anhalten wird. Im Hinblick auf die Zinsentwicklung wurde aus einem “lower for longer” erst ein “low for long” und nun ein “low forever”. Oder anders ausgedrückt: Wir befinden uns mittlerweile in der geldpolitischen Planwirtschaft. Sowohl die US-Notenbank als auch die EZB haben deutlich gemacht, dass mit höheren Zinsen nicht vor dem Jahr 2023 zu rechnen ist. Mit den bisher gemachten Erfahrungen ist es jedoch selbst dann fraglich, ob der Geldpolitik der Ausstieg aus dem Krisenmodus gelingen wird. Woran machen Sie das fest?Die EZB geht in ihren makroökonomischen Prognosen davon aus, dass die Inflationsrate von 0,3 % in diesem auf 0,8 % im nächsten Jahr und auf 1,3 % im Jahr 2022 ansteigen wird. Damit wäre man immer noch weit vom selbst gesteckten Ziel unter, aber nahe 2 % entfernt. Ähnlich sieht es bei der Fed aus, die von 2020 bis 2022 ebenfalls nur einen moderaten Preisanstieg erwartet. Aber selbst wenn die Inflationsrate wieder etwas stärker ansteigen sollte, werden die Notenbanken wohl aus zwei Gründen die geldpolitischen Zügel locker halten. Und diese sind?Zum einen könnten sie argumentieren, dass nach der langen Zeit der Zielunterschreitung eine Phase höherer Inflation tolerierbar und notwendig sei, um die vorhergehende jahrelange Verfehlung “auszugleichen”. Ein solches Argument birgt allerdings die große Gefahr in sich, dass die ohnehin angekratzte Glaubwürdigkeit der Notenbank noch mehr leiden könnte. Der wesentlich wichtigere Grund, weshalb auch nach 2023 der Zinssozialismus fortgesetzt werden dürfte, ist die hohe Staatsverschuldung. Denn auch wenn die EZB beteuert, dass ihre Geldpolitik mit dem Artikel 123 des Lissabonner Vertrages kompatibel ist und ihr dies auch durch den EuGH bestätigt worden ist, setzt sie sich mit der Aufstockung des Notfallprogramms PEPP auf 1 350 Mrd. Euro dem Verdacht der monetären Staatsfinanzierung aus. Die US-Notenbank diskutiert derzeit, als nächstes Instrument womöglich die Zinskurvensteuerung einzusetzen. Kommt es dazu, und ist das gefährlich?Wir halten dies durchaus für wahrscheinlich. Während die Fed bislang immer auf die schädlichen Auswirkungen von Negativzinsen hingewiesen hat, scheint sie gegenüber der Einführung von expliziten Zinsobergrenzen zumindest für bestimmte Laufzeiten weniger abgeneigt zu sein. Wie groß ist derzeit die Gefahr einer Deflationsspirale und preisen die Märkte das Risiko korrekt ein?Wir sehen keine Deflationsgefahren, sofern es nicht zu einem weiteren wirtschaftlichen Lockdown kommt. Diesen dürften die Regierungen aber aufgrund der drohenden enormen wirtschaftlichen Schäden kaum beschließen wollen. Abwärtsdruck auf die Preise geht derzeit in erster Linie von den Energiepreisen aus. Da die sich aber wieder erholen, dürften wir in den kommenden Monaten Preissteigerungsraten leicht über der Nulllinie sehen. Nach der Finanz- und Wirtschaftskrise gab es viele Volkswirte, die vor hohen Inflationsraten gewarnt haben und mit dieser Erwartung falsch lagen. Und heute?Dieses Mal scheint kaum jemand mit einer Auferstehung der Inflation zu rechnen. Ich bin allerdings nicht so sicher, ob in den kommenden Jahren die Inflationsrate nicht doch stärker ansteigen wird. Schließlich haben wir noch nie so viel Liquidität im System gehabt wie derzeit. Inflation in den Assetpreisen ist jedenfalls deutlich zu beobachten. Anleihen sind so teuer wie nie zuvor, weil die Notenbanken mit ihren Aktivitäten das Marktgeschehen ausgehebelt haben, und auch die Aktienmarktbewertungen sind vielfach so hoch wie seit dem Platzen der Dotcom-Blase nicht mehr. Allerdings können Blasenbildungen sehr lange anhalten. In der Vergangenheit sind sie oft erst dann geplatzt, wenn die Notenbanken die Zinsen erhöht haben – und damit ist für eine ganze Weile nicht zu rechnen. Das Interview führte Kai Johannsen.