Brasiliens Märkte trotzen Temer-Krise

Auch im Falle der Absetzung des Präsidenten ist eine Fortsetzung des Reformkurses wahrscheinlich

Brasiliens Märkte trotzen Temer-Krise

Solider als zunächst befürchtet reagieren Brasiliens Finanzmärkte auf die neuerliche Krise an der Staatsspitze. Die langfristige Aussicht auf eine Fortsetzung des Reformkurses mindert die Befürchtungen um einen möglichen Abtritt des Präsidenten Temer. Robuste Makrodaten und eine starke Zentralbank begrenzen die Risiken.Von Andreas Fink, Buenos AiresBrasiliens Finanzmärkte scheinen die Turbulenzen in der politischen Führung des Landes nicht existenziell zu schrecken. Nach der Veröffentlichung mehrerer Audiodateien, die den Präsidenten Michel Temer und den Führer der Sozialdemokraten Aécio Neves erheblich kompromittieren und die den Fortbestand der großen Mehrheit in Kongress und Senat in Frage stellen, war der Aktienindex Bovespa am 18. Mai um 8,8 % abgestürzt, ebenso fiel der Wert des Real um mehr als 8 %. Doch diese Entwicklung setzte sich nicht fort. Viele Aktienwerte konnten sich seither, ebenso wie die Landeswährung, wieder leicht erholen, obwohl weiterhin vollkommen offen ist, wer das Land in den nächsten 18 Monaten regieren wird und ob der eingeschlagene Reformkurs überhaupt fortgesetzt werden kann. Schnelles Aus möglichMehrfach machte Michel Temer deutlich, dass er nicht freiwillig den Präsidentenpalast räumen werde, und stritt jegliches Fehlverhalten ab. Dabei drohen für seinen Verbleib Gefahren von drei Seiten: Der oberste Gerichtshof könnte dem Antrag des Generalstaatsanwalts entsprechen und ihn förmlich der Korruption und Strafvereitelung im Amt anklagen, was eine Absetzung zur Folge hätte. Der Kongresspräsident könnte einem der bislang 15 eingereichten Anträge auf ein Impeachment Temers entsprechen. Doch dieser Prozess könnte, wenn er denn zustande käme, Monate in Anspruch nehmen. Ein schnelles Ende wiederum könnten Temer die sieben Richter des obersten Wahlgerichtes bescheren. Diese beraten in dieser Woche in vier Sitzungen über eine Annullierung der Wahl 2014, deren Kampagnen zum großen Teil mit Mitteln aus dubiosen Quellen finanziert wurden. Sollten die Richter das Wahlergebnis kassieren, wäre Temer sein Amt los. Marktfreundliche MehrheitDoch selbst das dürfte keinen brüsken Kurswechsel auslösen, denn Brasiliens Verfassung sieht in der zweiten Hälfte der Legislaturperiode keine Neuwahlen vor. Im Falle eines Abtritts von Temer müssten Parlamentarier und Senatoren einen Nachfolger bestimmen, der das Land bis Ende 2018 führt. Nachdem sich seit der Absetzung der linken Dilma Rousseff eine solide marktfreundliche Mehrheit in beiden Kammern gebildet hat, gehen die meisten Beobachter davon aus, dass sich am eingeschlagenen Kurs bis Ende 2018 nichts Großes ändern wird. Und dass – nach der massiven Schwächung der Linken – auch danach eine marktfreundliche Koalition das Land führt. “Davon wird ausgegangen”, sagte ein hoher Repräsentant des Bankensystems dem argentinischen Wirtschaftsblatt “El cronista comercial”. “Und darum spielt es auch keine große Rolle, ob die Präsidentschaft bis Ende 2018 von Temer ausgeübt wird oder womöglich von Rodrigo Maia.” Der aktuelle Kongressvorsitzende gilt, obwohl auch unter Korruptionsverdacht, als möglicher Übergangspräsident. Der zitierte Banker geht wie viele andere Marktkenner davon aus, dass die von Temer anvisierte Reform des Rentensystems aufgeschoben wird, denn mit Blick auf die Wahlen 2018 wolle sich keine Partei das höchst unpopuläre Reformpaket aufbürden. Brasiliens Staatsverschuldung steht derzeit bei 71 % des BIP und könnte 2024 die 100-Prozent-Marke knacken, falls das unfinanzierbare Rentensystem nicht verändert werden sollte. Die Reform muss kommen.Das versicherte in der Vorwoche auch der Finanzminister Henrique Meirelles, der Favorit des Finanzsektors für die Temer-Nachfolge. Anlässlich des Conference Call von J.P. Morgan versprach er den teilnehmenden Investoren, dass der Reformweg weiter beschritten werde. Meirelles hat als Zentralbankchef unter Lula mehrere schwere Marktturbulenzen durchgestanden, 2002 beim Amtsantritt der Linksregierung und nach deren erstem Bestechungsskandal 2005 sowie den Einbruch des Jahres 2008.Meirelles’ Zuversicht wird scheinbar auch in der aktuellen Zentralbankführung geteilt. Deren Kontrollrat Copom senkte Ende der Vorwoche den Leitzins um einen weiteren Prozentpunkt auf 10,25 %. Insgesamt ist der Selic seit der Absetzung Dilma Rousseffs vor einem Jahr um 4 % gefallen. Womöglich folgt bei der nächsten Copom-Sitzung ein weiterer moderater Zinsschritt. Doch dass der Zins wie ursprünglich erhofft in diesem Jahr noch stärker fallen wird, glauben nach den Temer-Turbulenzen nur noch unerschütterliche Optimisten. “Wir hofften auf eine Senkung bis 8,5 %. Aber heute glauben wir an einen Wert zwischen 9 und 10 % zu Jahresende”, schreiben Analysten von Goldman Sachs. ZinssenkungsspielraumSpielraum für die Zinssenkung eröffnet der deutliche Rückgang der Inflation. Im Mai lagen die Preise nur noch um 3,77 % über dem Vorjahresniveau, Anfang 2016 hatte die Teuerungsrate noch bei 11 % gelegen. Und vorigen Freitag konnte Präsident Temer gar via Twitter das Ende der schwersten Rezession seit 80 Jahren bejubeln, während der die Wirtschaftsleistung des 200-Millionen-Einwohner-Landes insgesamt um 7,2 % abgenommen hatte. Im ersten Quartal 2017 wuchs Brasiliens Wirtschaft um 1 % gegenüber dem letzten Viertel 2016. Es war die erste relative Zunahme seit zwei Jahren. Allerdings: Im Vergleich zum ersten Vorjahresquartal ist das BIP immer noch um 0,4 % geschrumpft.Wenig tröstlich dürfte auch die Tatsache stimmen, dass die leichte Zunahme allein einer spektakulären Ernte zuzuschreiben ist. Erstmals werden die Bauern dieses Jahr mehr als 100 Mill. Tonnen Mais einfahren, der bisherige Höchstwert lag bei 84 Mill. Tonnen. Auch Soja verzeichnete Rekorde. Insgesamt legte der Agrarsektor im Vergleich zum Vorjahr um spektakuläre 13,4 % zu und konnte so Rückgänge in anderen Bereichen ausgleichen. Allerdings: Der private Konsum lag etwa 1,9 % unter dem Vorjahreswert, und die Investitionsquote der Firmen war mit 15,6 % Prozent so niedrig wie seit 1995 nicht mehr. Insgesamt rechnen die meisten Marktbeobachter für 2017 mit einem Wachstum von etwa 0,5 Prozent plus. Kein Grund zur Euphorie. Aber auch nicht zur Panik. Zentralbank gut gerüstetBrasiliens Länderrisiko steht heute mit 283 nur halb so hoch wie im Februar 2016, als der Wert bei 563 lag. Die Zahlungsbilanz ist mit einem leichten Defizit von 1,1 % des BIP in den letzten zwölf Monaten wesentlich besser als die 4,15 % des Vorjahres. Und die Zentralbank hat enorme Feuerkraft. Einerseits stehen Währungsreserven von 370 Mrd. Dollar zu Buche, das entspricht in etwa einem Fünftel des BIP, andererseits hat sich der Vorrat von Währungs-Swaps stark reduziert – von 108 Mrd. auf 22 Mrd. Dollar. Das vergrößert den Spielraum der Zentralbank, die nach dem stürmischen 18. Mai 10 Mrd. Dollar lockermachte, um den Real zu stabilisieren.Das gelang vorläufig. Die Währung, die am Tag der Turbulenzen von 3,03 auf knapp 3,40 Real pro Dollar gefallen war, liegt nun bei etwa 3,30 Real. Trotz der ungewissen politischen Entwicklung rechnet kein Beobachter damit, dass die Währung wieder auf jene 4,25 Real pro Dollar fallen könnte, die sie Ende 2015 erreichte. Die Deutsche Bank befand, “dass sich der Real auf ein Niveau verbessert hat, das konsistent wäre mit einem nicht traumatischen Übergang zu einer neuen Reformregierung.” Die Währung könnte in diesem Szenario sogar noch leicht zulegen, auf etwa 3,20 Real, so die Deutsche Bank. “Sollte Temer noch eine Weile im Amt bleiben, was die wahrscheinlichste Variante ist, dann könnte der Real bei 3,60 Real liegen.” In jedem Fall habe die Zentralbank erheblichen Spielraum, um einen jähen Sell-off zu begrenzen.