Brexit-Folgen werden für Sterling zum Risiko
Von Stefanie Holtze-Jen*)
Hatte Großbritannien 2020 noch mit am stärksten unter der Coronavirus-Pandemie gelitten, sieht die Entwicklung heute ermutigend aus: Laut den Erkenntnissen des University College London wird der Anteil der Bevölkerung, der entweder durch Impfung oder vorangegangene Infektion vor dem Virus geschützt ist, am 12. April 2021 bei exakt 73,4 Prozent liegen – genug, um Herdenimmunität zu erreichen. Negative Schlagzeilen macht allerdings das Vakzin von AstraZeneca, auf dem die britische Impfkampagne fußt. In einer großen Zahl von Ländern wurde dessen Einsatz für bestimmte Altersgruppen reglementiert. Auch in Großbritannien selbst empfiehlt man, unter 30-Jährige nicht mehr damit zu impfen. Im Vergleich zu den USA und Europa hängt der Impferfolg im zweiten Quartal in Großbritannien jedoch stark von genau diesem Impfstoff ab. Über 40% der im zweiten Quartal zu verimpfenden Dosen sollen auf diesen Hersteller entfallen.
Weitreichende Lockerungen
Den Optimismus der bereits mit zwei Dosen AstraZeneca geimpften Briten mag das allerdings nicht trüben. Angesichts der unterstützenden Fiskalpolitik glauben viele Beobachter, dass der größte makroökonomische Unsicherheitsfaktor darin liegt, in welchem Ausmaß sich der private Verbrauch im Zuge der Wiedereröffnung der Wirtschaft – ein Prozess, der am Montag begonnen hat – erholt. Weitreichende Lockerungen stehen bevor: Die Außenbereiche von Pubs und Restaurants sowie auch alle Geschäfte, Fitnessstudios und Friseure dürfen wieder öffnen. Am 17. Mai folgen weitere Schritte, und bereits zum 21. Juni soll das Leben wieder so normal wie möglich verlaufen.
Berechnungen zufolge haben ebenjene privaten Verbraucher zu Beginn des zweiten Quartals rund 7,7% des Bruttoinlandsprodukts an überschüssigen Ersparnissen angehäuft. Der Großteil verteilt sich auf Personen mit mittlerem bis hohem Einkommen sowie auf ältere Konsumenten – also Verbraucher mit geringerer Ausgabenneigung. Die überschüssigen Ersparnisse sind daher etwas niedriger anzusetzen und könnten um die 150 Mrd. Pfund betragen. Inwieweit diese dann auch ausgegeben werden oder ob sich im Verlauf des Pandemie-Jahrs das Konsumentenverhalten nachhaltig verändert hat, gilt es zu beobachten.
Von der Realität eingeholt wurde Großbritannien jedoch bereits beim Thema Brexit. Dass nach dem Ausscheiden die Sorgen von vor dem Brexit wiederkommen würden, war spätestens klar, als die EU Mitte März ein Vertragsverletzungsverfahren einleitete. Der Grund dafür war schon in den Brexit-Verhandlungen ein Dauerbrenner: Laut EU soll Großbritannien Warenkontrollen an der Grenze zu Nordirland durchgeführt haben, die gemäß des Nordirland-Protokolls im Brexit-Deal verhindert werden sollten. Das Nordirland-Protokoll wurde entwickelt, um eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zu vermeiden. Die Auswirkungen des Brexit sind allerdings nicht nur in der Außen-, sondern auch in der Innenpolitik zu spüren: In Nordirland gibt es gewalttätige Ausschreitungen, für die zumindest teilweise die im Brexit-Abkommen auferlegte irische Seegrenze verantwortlich gemacht wird. Produkte aus Großbritannien wurden in nordirischen Häfen EU-Einfuhrverfahren unterzogen, was zu Verzögerungen und spärlich gefüllten Supermarktregalen geführt hat. Aber auch der Verstoß gegen die Coronavirus-Regeln bei der Beerdigung des ehemaligen IRA-Geheimdienstchefs Bobby Storey im vergangenen Juni erhitzte die Gemüter.
Schottland bleibt gespalten
Auch Schottland hadert mit den Auswirkungen des Brexit. Denn auch wenn die Mehrheit der Schotten den Brexit nicht wollte, muss der Landesteil die Folgen mittragen. Die Nationalisten nutzen das nun als Argument für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum. Die Schottische Nationalpartei und ihre Regierungschefin Nicola Sturgeon kündigten an, nach dem Ende der Pandemie ein „legales Referendum“ durchzuführen. Voraussetzung sei, dass Pro-Unabhängigkeits-Parteien bei der für den 6. Mai 2021 geplanten Regionalwahl erneut eine Mehrheit erhalten. Es ist zwar starker Widerstand seitens der britischen Regierung in London zu erwarten, aber Premierminister Boris Johnson sagte kürzlich, er werde selbstverständlich die Ergebnisse der Wahlen respektieren. Jedoch halte er jedes weitere Referendum für „toxisch und spaltend“. Laut aktuellen Meinungsumfragen ist die schottische Bevölkerung praktisch in gleich große Lager gespalten, wenn es darum geht, ob Schottland Teil des Vereinigten Königreichs bleiben oder ein eigenständiger Staat werden soll.
Der 6. Mai 2021 wird damit doppelt spannend. Auch die Bank of England wird an diesem Tag Stellung dazu beziehen, inwieweit die komplette Abkehr von Erwartungen niedrigerer Zinsen gerechtfertigt ist. In den von der Zentralbank auszuwertenden Wirtschaftsdaten spiegeln sich derzeit noch die Unsicherheiten durch die Brexit-Verhandlungen, welche bis zur letzten Minuten gingen.
So sind die Exporte aus Großbritannien in die EU im Januar gegenüber dem Vormonat um über 40% eingebrochen. Ein ähnliches Bild zeichnet sich bei den Importen aus der EU ab. Das Leistungsbilanzdefizit im vierten Quartal war zwar geringer als erwartet, belief sich für das Gesamtjahr aber immer noch auf 74 Mrd. Pfund und entspricht damit 3,5% des Bruttoinlandsprodukts – der größte Fehlbetrag im G10-Vergleich. Großbritannien ist damit weiterhin auf ausländisches Kapital angewiesen.
Hoffnung auf grüne Zukunft
Eine Hoffnung ist, dass billige britische Vermögenswerte einen Boom ausländischer Direktinvestitionen auslösen werden, so wie es nach dem Rückgang des Pfund-Kurses 2016 der Fall war. Es gibt zwar Anzeichen für eine Belebung der M&A-Aktivitäten, aber noch nicht in dieser Größenordnung. Langfristige Investitionen in ESG-Projekte wären besonders hilfreich. Immerhin hat Großbritannien 2021 die Präsidentschaft der G7-Staatengruppe inne und lädt vom 11. bis 13. Juni nach Cornwall ein. Premierminister Johnson hat neben den G7-Staaten auch Australien, Indien und Südkorea eingeladen. Den Ankündigungen zufolge möchte man die Präsidentschaft nutzen, um unter anderem eine grünere, erfolgreichere Zukunft zu schaffen.
Auch wenn man sich damit gut für ausländische Direktinvestitionen positioniert hat, bleibt das Defizit. Dies ist ein weiteres Abwertungsargument für das Pfund, wenn auch bislang im Hintergrund. Das Pfund, das im ersten Quartal zugelegt hat, weil der Brexit als Risikofaktor verschwand und der Impffortschritt so rasant war, steht nun wieder als Wackelkandidat da. Es bleibt abzuwarten, ob sich die hochgesteckten Erwartungen an den britischen Verbraucher erfüllen und wie die Öffnung verläuft. In der Zwischenzeit bewerten wir eine letztendliche Abwertung des Pfund als realistischere Darstellung der Gemengelage. Sie trifft gegen den Euro mit 0,87 unsere Einjahresprognose, hat aber gegen den US-Dollar noch Platz nach unten bei 1,32.
*) Stefanie Holtze-Jen ist Chief Currency Strategist der DWS.