Brexit verstellt Blick auf Bewertungen

Britische Aktien sind so günstig zu haben wie zuletzt vor 20 Jahren - Deal mit Brüssel erwartet

Brexit verstellt Blick auf Bewertungen

Der britische Aktienmarkt hat sich in den vergangenen Jahren schlechter als alle anderen großen Märkte entwickelt. Sollte es am Jahresende zu einer Einigung zwischen London und Brüssel kommen, könnten die niedrigen Bewertungen in den Vordergrund rücken.Von Andreas Hippin, LondonSeit Jahresbeginn hat der FTSE 100 rund ein Fünftel an Wert verloren. Seit dem Volksentscheid für den EU-Austritt entwickelte sich der britische Aktienmarkt schlechter als alle anderen großen Märkte. Bislang zeichnet sich keine Einigung mit Brüssel über die künftigen Beziehungen ab und die Brexit-Übergangsfrist läuft zum Jahresende aus. Darüber hinaus brachten Ausgangsbeschränkungen zur Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie auch in Großbritannien die Kurse ins Rutschen.”Der britische Markt ist von allen Seiten unter Beschuss geraten”, sagte Paul Surguy, Head of Investment Management beim Vermögensverwalter Kingswood. “Internationale Anleger haben sich auf den Standpunkt gestellt, dass der FTSE 100 die britische Wirtschaft repräsentiert.” Reflexartige Reaktionen könnten dank der großen Markttiefe leicht umgesetzt werden. “Einheimischen Anlegern machen der Fallout von Covid-19, die Ungewissheit rund um den Brexit und rückläufige Dividenden zu schaffen”, erläuterte Surguy. Dividenden spielen für britische Pensionsfonds, die Verbindlichkeiten zu bedienen haben, eine große Rolle. “Berücksichtigt man, dass es einfacher geworden ist, in ausländische Aktien zu investieren, während die britischen Aktien hinterhergehinkt sind, wird offensichtlich, warum es zu diesem Exodus gekommen ist.” Bereits im vergangenen Jahr schrumpfte der Anteil britischer Dividendentitel in den Aktienportfolios der heimischen Vermögensverwaltungsbranche Daten der Investment Association zufolge erstmals unter 30 %. Dash for CashIm Frühjahr habe es einen Ansturm von Anlegern auf den Ausgang (Dash for Cash) gegeben, sagte Luke Ellis, der Chef des börsennotierten Hedgefondsbetreibers Man Group, diese Woche auf der Londoner City Week. Wenn man als großer Pensionsfonds plötzlich um 10 % oder 20 % schlechter finanziert sei, wachse der Wunsch nach Barem. “Doch im Moment befinden wir uns in einem normalen Kundenumfeld”, sagte Ellis.Peter Harrison, der Chef des Vermögensverwalters Schroders, erwartet weiterhin starke Kursschwankungen. Die Märkte seien sehr eng, die Spreizung zwischen Gewinnern und Verlierern sehr groß. Die Ungewissheit rund um den Brexit habe ausländische Investoren vor britischen Vermögenswerten zurückschrecken lassen, sagte Ellis. “Wenn die Verhandlungen mit der EU jedoch irgendein Ergebnis hervorbringen, dürfte in den Vordergrund treten, wie billig britische Assets sind.” Gemessen an Kennzahlen wie dem Verhältnis von Kurs zu Buchwert oder der Dividendenrendite sind Aktien aus dem Vereinigten Königreich so niedrig bewertet wie zuletzt vor 20 Jahren.Geht es nach den Aktienstrategen vieler Sell-Side-Banken könnte das noch eine Weile so bleiben. Société Générale sieht den britischen Leitindex Ende 2020 bei 5 900 (aktuell: 5 873) Punkten. Noch vor der Ankündigung neuer Einschränkungen des öffentlichen Lebens durch den britischen Ministerpräsidenten Boris Johnson senkte die UBS ihr Kursziel für den “Footsie” am Jahresende von 6 400 auf 6 000 Zähler. Sie rechnen mit einem Rückgang der Unternehmensgewinne um zwei Fünftel. Die Bewertung sei allerdings im Vergleich zu Resteuropa attraktiv. Im Vergleich zu ihren europäischen Wettbewerbern seien 17 Branchen niedriger bewertet, 15 von der 17 in stärkerem Maße als sonst. Das Basisszenario der Schweizer geht davon aus, dass es in irgendeiner Form zu einer Übereinkunft mit Brüssel kommen wird. Das sollte aus ihrer Sicht das Pfund stärken und sich positiv auf die Aktienkurse von Unternehmen auswirken, die vor allem auf dem Heimatmarkt tätig sind. Sie verorten das Pfund zum Jahresende bei 1,36 Dollar und erwarten, dass es bis Ende 2021 auf 1,43 Dollar steigen wird.Die Strategen von Barclays sind etwas optimistischer für den FTSE 100. Ihr Kursziel für Ende 2020 liegt bei 6 500 Punkten. Trotz Brexit und der britischen Schwierigkeiten, auf die Pandemie zu reagieren, scheine das Pfund einen Boden gefunden zu haben, heißt es in ihrem Ausblick. Der wirtschaftlichen Aussichten der entwickelten Länder insgesamt sei nicht mehr ganz so finster wie noch vor ein paar Monaten. Bittere PilleAls Johnson diese Woche neue Ausgangsbeschränkungen verkündete, gehörten die British-Airways-Mutter IAG und der Triebwerkshersteller Rolls-Royce zu den größten Kursverlierern. Der Technologiekonzern steht vor umfangreichen Kapitalmaßnahmen und gehört derzeit zu den FTSE-350-Gesellschaften mit dem höchsten Kurs-Gewinn-Verhältnis – bei Zyklikern unter normalen Umständen ein Kaufsignal. “Nachdem sich die Umsätze im Sommer erholt haben, ist die Aussicht auf abendliche Corona-Ausgangssperren eine bittere Pille für das Gastgewerbe”, sagte Susannah Streeter, Senior Investment & Markets Analyst bei Hargreaves Lansdown. Kein Wunder, dass auch die Restaurant Group, die sich vor kurzem Wagamama einverleibte, und der Pub-Betreiber JD Wetherspoon empfindliche Kursverluste hinnehmen mussten.Doch gerade in Branchen wie Einzelhandel, Freizeit, Gastgewerbe und Touristik, die am härtesten von der Pandemie getroffen wurden, ist das Erholungspotenzial am größten. Die Voraussetzung ist natürlich, dass man die Firmen identifizieren kann, die gestärkt aus der Krise hervorgehen dürften.Ebenso schwierig dürfte es sein, die Gewinner in der pharmazeutischen Industrie auszumachen. Solle sich der von AstraZeneca mit der Universität Oxford entwickelte Impfstoff als wirksam und verträglich erweisen, will ihn die Nummer 2 der britischen Pharmabranche zunächst zum Selbstkostenpreis abgeben. Die Analysten von Jefferies beziffern die wiederkehrenden Umsätze für eine Reimmunisierung in einer groben Schätzung auf 1,5 Mrd. Dollar jährlich. Sie nehmen an, dass in den Industrieländern 250 Millionen Dosen für 6 Dollar je Impfung abgesetzt werden können. Zum Vergleich: Die US-Grippeimpfung schlägt mit 11 bis 13 Dollar je Dosis zu Buche.