ANSICHTSSACHE

Bürokratisches Monster Marktmissbrauchsverordnung

Börsen-Zeitung, 8.7.2016 Am 3. Juli 2016 ist die Marktmissbrauchsverordnung in Kraft getreten, welche die Insiderrichtlinie ersetzt. Das Marktmissbrauchsrecht zählt zu den verhältnismäßig früh in Angriff genommenen Projekten der Europäischen Union....

Bürokratisches Monster Marktmissbrauchsverordnung

Am 3. Juli 2016 ist die Marktmissbrauchsverordnung in Kraft getreten, welche die Insiderrichtlinie ersetzt. Das Marktmissbrauchsrecht zählt zu den verhältnismäßig früh in Angriff genommenen Projekten der Europäischen Union. 1989 trat die erste Insiderrichtlinie in Kraft, im Jahr 2003 ist sie erstmalig reformiert worden. Die zweite Generalüberholung erfolgt nunmehr in der Rechtsform der Verordnung. Diese gilt in allen (Noch-)Mitgliedstaaten der EU unmittelbar. Einer Umsetzung durch die nationalen Parlamente, wie dies für Richtlinien erforderlich ist, bedarf es nicht. Umgang mit InsiderwissenEinen archimedischen Punkt der Verordnung bildet der Begriff der “Insiderinformation”. Dabei handelt es sich um nicht öffentlich bekannte Informationen, die einen direkten Bezug zu bestimmten Emittenten oder Finanzinstrumenten haben, und deren Veröffentlichung kurserheblich wirken würde. Die fragliche Information mag den bevorstehenden Rücktritt eines Vorstandsvorsitzenden, Pläne zur Rückabwicklung eines Total Return Swaps oder auch die Entdeckung eines schweren Fehlverhaltens im Unternehmen betreffen. An das Vorliegen einer solchen Insiderinformation knüpft das europäische Recht zwei Folgen. Die erste wird international einheitlich gehandhabt: Wer von einer Insiderinformation Kenntnis erlangt, darf auf dieser Basis nicht handeln. Erfährt ein Investor beispielsweise, dass der ungeliebte Vorstandsvorsitzende zurücktritt und erwartet er einen Kursanstieg, darf er sich nicht mit den noch unterbewerteten Papieren eindecken. Verboten ist auch die Weitergabe der Information an Dritte. Problem der GeheimhaltungDie zweite Folge hängt hiermit eng zusammen, wird international aber durchaus unterschiedlich gehandhabt: Sobald eine Insiderinformation vorliegt, hat der betreffende Emittent diese der Öffentlichkeit bekannt zu geben. Ist im Unternehmen beispielsweise deutlich, dass wegen eines Produktfehlers umfängliche Schadensersatzklagen drohen, muss die Öffentlichkeit hiervon unverzüglich informiert werden.Die Verknüpfung beider Rechtsfolgen mit dem einheitlichen Begriff der Insiderinformation ist international nicht gängig und überzeugt nicht immer. Manch eine unklare, im Entstehen begriffene oder in ihrem Ausmaß noch nicht eindeutige Information mag es zwar ohne weiteres legitimieren, sämtlichen Insidern ein Handelsverbot aufzuerlegen. Die Information immer zugleich dem Markt bekannt zu geben, kann hingegen kontraproduktiv wirken, indem ein “Information Overload” entsteht und kurzfristige Preisschwankungen begünstigt werden. Die Marktmissbrauchsverordnung sieht hierfür das Korrektiv eines Aufschubs der Veröffentlichungspflicht vor. Voraussetzung ist freilich nicht nur, dass die Öffentlichkeit durch das Zurückhalten der Information nicht irregeführt wird.Zusätzlich muss der Emittent in der Lage sein, die Geheimhaltung der Information sicherzustellen. Geht es nicht nur um wenige Tage, wird dies häufig schwerfallen. Für Banken nimmt der Verordnungsgeber die Irreführung der Öffentlichkeit hin, solange die Stabilität des Finanzsystems bedroht ist und dem Aufschub der Veröffentlichung behördlich zugestimmt wurde. Die Geheimhaltung ist allerdings auch hier zu sichern.Es überrascht nicht, dass die Auslegung des Begriffs der “Insiderinformation” in einer ganzen Reihe von Fällen nationale Gerichte sowie den Europäischen Gerichtshof beschäftigt hat. Die Frage, ob eine Insiderinformation schon dann entstanden ist, wenn der Vorstandsvorsitzende mit Kollegen über die Möglichkeit seines Rücktritts ernsthaft diskutiert, hat der Gerichtshof zeitgleich mit dem Verfahren zum Erlass der Marktmissbrauchsverordnung behandelt. Nahezu wörtlich finden sich Entscheidungsgründe des Gerichtshofs in der Verordnung wieder. Die Diskussionen mit Kollegen sind künftig als “Zwischenschritt” einzuordnen. Darf man sie für “präzise genug” halten, kann schon das Gespräch selbst eine Insiderinformation darstellen. Jedenfalls bildet es einen relevanten Anhaltspunkt für die Feststellung, ob man “vernünftigerweise erwarten kann”, dass es zu einem Rücktritt kommt. Lange im Vorfeld einer Aufsichtsratsentscheidung über den Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden ist somit der Kapitalmarkt bereits darüber in Kenntnis zu setzen, dass das Mandat wohl enden wird. Diese Logik greift nach einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs, die nach Erlass der Verordnung erging, sogar wenn gar nicht feststeht, ob die Insiderinformation den Kurs nach oben oder nach unten bewegen wird.Zu den Zielen der Verordnung zählt es, “den Marktteilnehmern mehr Rechtssicherheit und unkompliziertere Vorschriften zu bieten”. Der Detaillierungsgrad der neuen Vorschriften erschreckt freilich eher, als dass er beruhigt. Auf 7 000 Seiten PapierEmittenten haben künftig nicht nur die Beachtung der Verordnung, einer begleitenden Richtlinie sowie derzeit elf delegierter (also nur von der Kommission, ohne Beteiligung von Rat oder Parlament erlassener) Richtlinien sicherzustellen. Informiert zu sein hat man auch über Stellungnahmen der Wertpapieraufsichtsbehörde ESMA, Berichte der Kommission und FAQs der BaFin, addiert soll es sich um etwa 7 000 Seiten Papier handeln.Ob die beträchtlichen Compliancekosten, die hiermit einhergehen werden, tatsächlich durch die Vorteile effizienter und liquider europäischer Kapitalmärkte aufgewogen werden, darf bezweifelt werden. Das Ideal eines lückenlosen Gesetzes verfolgt man in Europa seit Jahrhunderten nicht mehr. Es sollte nicht durch das Ideal lückenlos produzierender Bürokratie ersetzt werden.Prof. Dr. Katja Langenbucher ist Professorin für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und Bankrecht am House of Finance der Goethe-Universität Frankfurt. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Katja LangenbucherDer Detaillierungsgrad der neuen EU-Verordnung zum Marktmissbrauch erschreckt eher, als dass er beruhigt.——-