DEVISENWOCHE

Chance für einen Strategiewechsel der EZB

Von Hans-Peter Rathjens*) Börsen-Zeitung, 19.11.2019 Es gibt Sätze, die die Welt bewegen! Sie spiegeln politische Entscheidungen oder Visionen oft in nur wenigen Worten wider und haben eine Wirkung, die sich erst im Laufe der Zeit voll entfaltet....

Chance für einen Strategiewechsel der EZB

Von Hans-Peter Rathjens*)Es gibt Sätze, die die Welt bewegen! Sie spiegeln politische Entscheidungen oder Visionen oft in nur wenigen Worten wider und haben eine Wirkung, die sich erst im Laufe der Zeit voll entfaltet. Wer kennt nicht Caesars “alea iacta est”, als er 49 v. Chr. mit seiner Armee am Rubikon aufmarschierte. Den geldpolitischen Rubikon überschritt der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) Mario Draghi, als er am 26. Juli 2012 äußerte: “Within our mandate, the ECB is ready to do whatever it takes to preserve the euro. And believe me, it will be enough.” “Whatever it takes” – diese drei Worte werden dereinst, wenn die EZB-Geldpolitik dieses Jahrzehnts aus größerer zeitlicher Distanz analysiert wird, mit Sicherheit eine herausragende Stellung einnehmen. Sehr erfahrenWie sieht nun die Bilanz von Mario Draghi aus heutiger Sicht, also im November 2019, aus? Zunächst einige Fakten zur Person: Als Mario Draghi am 1. November 2011 das Amt des EZB-Präsidenten übernimmt, ist er 64 Jahre alt und kann auf ein breites Spektrum an beruflicher Erfahrung aus dem akademischen Bereich und der Praxis zurückgreifen. Er hat Wirtschaftswissenschaften an der Universität Rom studiert, wurde am amerikanischen MIT promoviert und war an den Universitäten Trient, Padua, Venedig und Florenz als Dozent respektive Professor tätig. Weitere berufliche Stationen: italienischer Exekutivdirektor bei der Weltbank, Generaldirektor im italienischen Finanzministerium, Managing Director bei Goldman Sachs in London und Gouverneur der italienischen Notenbank. Wahrlich eine beachtliche Karriere und der hier und dort zu hörende Vorwurf, Mario Draghi sei der verlängerte Arm angelsächsischer Investmentbanker, ist schlicht und einfach “daneben”.Als Mario Draghi neun Monate vor seiner berühmten “Whatever it takes”-Rede das Zepter übernimmt, können die Zeiten kaum turbulenter sein: Die Nachwirkungen der globalen Banken- und Finanzkrise lasten noch schwer auf den Güter- und Kapitalmärkten. Der IWF schätzt im April 2009 die Verluste aus Abschreibungen von Krediten und Wertpapieren global auf 4,045 Bill. Dollar, davon 1,193 Bill. in Europa. Hinzu kommt die europäische Staatsschuldenkrise, die ihren Ausgangspunkt im Oktober 2009 nimmt. Die neu gewählte griechische Regierung muss eingestehen, dass die Nettoneuverschuldung 2009 nicht – wie von der Vorgängerregierung vorsätzlich falsch angegeben – rund 6 % des BIP beträgt, sondern mindestens das Doppelte. Die Eurozone insgesamt hat in dieser Zeit mit hohen öffentlichen Haushaltsdefiziten zu kämpfen, die das Maastricht-Kriterium weit verfehlen: 6,2 % im Jahr 2009, 6,3 % für 2010 und 4,2 % für 2011. Im November 2011 liegt die Arbeitslosenquote in der Eurozone bei 10,6 % und steigt bis Anfang 2013 auf 12,1 %. Im Zeitraum Juli 2009 bis zum Amtsantritt Mario Draghis hat sich der Verbraucherpreisanstieg von 1,7 % auf 3 % beschleunigt und bewegt sich damit deutlich über der 2-Prozent-Zielmarke der EZB. In dieser Phase schwankt der Euro gegenüber dem Dollar zwar heftig, es bildet sich aber kein eindeutig zu identifizierender Trend heraus. Am 1. November 2011 wird ein Wechselkurs von 1,3703 Dollar pro Euro notiert.Und wo stehen wir heute in der Eurozone, mitten in einer nach wie vor extrem expansiven Geldpolitik? Erfreulicherweise hat sich die Beschäftigungslage verbessert: Die Arbeitslosenquote ist im August/September 2019 auf 7,5 % gefallen und bewegt sich damit unter dem langfristigen Durchschnitt. Das öffentliche Budgetdefizit beträgt Mitte 2019 lediglich 0,7 % des nominalen BIP und die Staatsverschuldung ist von 92,8 % Ende 2014 auf 85,9 % per Ende 2018 gerutscht. Die Inflationsrate hat sich auf zuletzt nur noch 0,7 % verlangsamt. Zehnjährige Bundesanleihen sind mit einer Rendite von minus 0,33 % inzwischen zu einem Verlustbringer für jeden Sparer geworden, der eine risikoarme Anlage sucht. Und der Wechselkurs? Der hat sich trotz besserer Rahmendaten gegenüber dem 1. November 2011 um knapp 20 % abgeschwächt, auf 1,1152 Dollar pro Euro am 31.Oktober 2019.Ist dies nun alles Draghi und der EZB zuzuschreiben? Nun, das wäre zu schnell geurteilt! Die Eurozone hat 19 Mitglieder mit divergierenden wirtschaftspolitischen Konzepten und wechselnden – wahlbedingt – politischen Akteuren, die gerne mit dem Finger auf andere zeigen und eigene Reformanstrengungen schleifen lassen. Hinzu kommen Änderungen im Umfeld, wie etwa der von Donald Trump initiierte Handelskonflikt und der Kollaps des Welthandels. Beides kann nicht der EZB angelastet werden. Stabilität bedrohtUnd die Zukunft? Der Wechsel zu Christine Lagarde bietet die Chance, die Nebenwirkungen einer zu lange expansiven EZB-Geldpolitik zu beleuchten und einen Strategiewechsel einzuleiten. Negative Renditen bedrohen zunehmend die Stabilität des Finanzsystems, darüber hinaus führen sie zu einem Erlahmen von Reformanstrengungen und einer nachlassenden Produktivitätsdynamik. Und nicht zuletzt verstärkt eine zeitlich überdehnte expansive Geldpolitik die Kluft zwischen Arm und Reich und leistet so ungewollt populistischen Kräften Vorschub. Wie jedoch der Eurokurs auf eine Änderung der Geldpolitik reagieren würde, scheint nur in der Theorie klar. *) Hans-Peter Rathjens ist Senior Investment Strategist bei Allianz Global Investors.