GASTBEITRAG

China reißt die Welt nicht in den Abgrund

Börsen-Zeitung, 23.1.2016 Hiobsbotschaften zum Jahresanfang: Sorgen um eine harte Konjunkturlandung Chinas haben die Börsen weltweit auf Talfahrt geschickt. Spekulationen um einen Währungskrieg zwischen China und den USA verunsichern die Welt in...

China reißt die Welt nicht in den Abgrund

Hiobsbotschaften zum Jahresanfang: Sorgen um eine harte Konjunkturlandung Chinas haben die Börsen weltweit auf Talfahrt geschickt. Spekulationen um einen Währungskrieg zwischen China und den USA verunsichern die Welt in hohem Maße – und speziell internationale Investoren. Der China-Schock sitzt tief und ruft bereits wieder altbekannte Untergangspropheten auf den Plan.Doch bevor überzogener Pessimismus und heftige Abwärtsbewegungen am Aktienmarkt zu einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung werden, müssen wir zwei Dinge unterscheiden: zum einen die hausgemachte Börsensituation, zum anderen die Frage des Wachstums. Ich bin fest davon überzeugt, dass China die Welt nicht in den Abgrund reißen wird. Denn die fundamentale Lage in China ist besser als ihre Wahrnehmung. Kein WachstumseinbruchNatürlich ist im Reich der Mitte nicht alles “rosarot”. Das Land hat seit Dengs Reise in den Süden des Landes im Jahr 1992 eine unglaubliche Entwicklung durchschritten. Das Bruttoinlandsprodukt beläuft sich mittlerweile auf gut 11 Bill. US-Dollar – fast vier Mal so viel wie das BIP der Bundesrepublik Deutschland. Ein Zuwachs des Bruttoinlandsprodukts von 6 bis 7 % ist bei der heutigen wirtschaftlichen Größe Chinas in absoluten Zahlen mehr als das Wachstum von 11,5 % im Jahr 2007 vor der Finanzkrise.Meines Erachtens ist es daher falsch, wenn von einem Einbruch oder einer Wachstumsdelle gesprochen wird. Außerdem ist es ein fundamentaler und struktureller Fehler, zu glauben, dass China wieder 10 % Wachstum schaffen könnte. Das wird meines Erachtens nicht passieren.Fraglich ist allerdings, ob China die Transformation von einer durch Investitionen und Export getriebenen zu einer auf Konsum und den Binnenmarkt fokussierten Volkswirtschaft ohne größere Störungen schaffen kann. Zweifellos ist diese Transformation schwierig, sicherlich gehen die Reformbemühungen nur langsam voran und eindeutig steht die politische Führung unter Druck. Die entscheidenden Reformen umfassen den Abbau von hohen Überkapazitäten in der sogenannten “Alten Ökonomie”, welche zum Beispiel die Stahl- und Industrieproduktion umfasst. Unterschätzter ServicesektorOb die chinesischen Wirtschaftszahlen glaubwürdig sind oder nicht, vermag ich nicht zu beurteilen. Es sind aber die besten “Schätzer”, die uns zur Verfügung stehen. Zweifler verweisen gerne auf den sogenannten Li-Keqiang-Index, benannt nach dem heutigen Premierminister. Dieser hatte als Parteisekretär einer nordchinesischen Region regelmäßig die Wachstumsraten von – unter anderem – Stromverbrauch und Güterverkehr genutzt, um das BIP-Wachstum besser einschätzen zu können.Angewandt auf ganz China deutete dieser Index zuletzt nur noch auf ein Wachstum von rund 1 % hin. Selbst wenn man Ungenauigkeiten einräumt deutlich weniger als die offiziellen 7 %. Diese Betrachtung verkennt allerdings den Wandel der chinesischen Wirtschaft. Das verarbeitende Gewerbe wuchs in den ersten neun Monaten 2015 tatsächlich nur um 1,2 %. Der Dienstleistungssektor hingegen konnte um 11,6 % zulegen.Wichtig ist dabei, dass in China Konsum und Service mittlerweile einen größeren Anteil an der Wertschöpfung aufweisen als die Industrieproduktion. Anstelle von Stromverbrauch und Güterverkehr sollte man also lieber Kinobesuche und den Passagierflugverkehr zu Rate ziehen. Diese wuchsen zuletzt um 50 % respektive 12 % pro Jahr. Im Dienstleistungssektor sind die Stimmungsindikatoren immer noch ordentlich.Der Konsum kann daher den chinesischen Binnenmarkt wohl ebenso weiter stützen wie staatliche Investitionen. Im Gegensatz dazu verliert die Industrie im Zuge des Umbaus der Wirtschaft spürbar an Bedeutung und damit auch der Export. Das Land steht deshalb wohl eher vor einer politisch gewollten Abkühlung als vor dem verheerenden Konjunktureinbruch, den so viele fürchten. Meiner Meinung nach sind die Reformbemühungen richtig.Die Turbulenzen an Chinas Börsen haben nur bedingt mit den Wachstumssorgen zu tun. Der Handel in Schanghai und Shenzhen wird von Privatanlegern dominiert. Die Regierung hat durch Deregulierung und “Marketing” die Leute in die Aktienmärkte getrieben. Dadurch haben die Börsenkurse vor rund 18 Monaten begonnen massiv zu steigen. Der Chinext-Index, welcher mit dem Neuen Markt vergleichbar ist, erreichte ein Kurs-Gewinn-Verhältnis von 170. Danach ist die Regierung immer wieder mit administrativen Eingriffen aufgefallen. Gesunde BereinigungDass die Kommunikation und das augenscheinliche Vorgehen nach dem “Versuch und Irrtum”-Ansatz noch verbesserungswürdig sind, steht außer Frage. Was wir momentan an Chinas Börsen sehen, ist in meinen Augen eine gesunde Bereinigung, denn die Bewertungen einiger Unternehmen der sogenannten “Neuen Ökonomie” waren nicht zu rechtfertigen.Die Weltbörsen und Marktteilnehmer schauen weniger auf die chinesischen Börsen, dafür aber umso mehr auf das Wachstum und die Währung. Es wird gemutmaßt, dass die Abwertung des Renminbi (RMB) ein Zeichen schwächelnden Wachstums sei. Die RMB-Abwertung rüttelte die globalen Märkte zwar durch, jetzt setzte Peking aber ein Zeichen.Die Notenbank stützte die Währung, um den Verdacht auszuräumen, die schwache Devise solle den Export fördern, weil die Wirtschaft schlechter laufe als offiziell angegeben. Die Abwertung hat also andere Gründe. China hat richtigerweise sein Wechselkursregime flexibilisiert. Dazu gehörte, die feste Bindung des RMB an den US-Dollar aufzugeben und sich stattdessen an einem Währungskorb zu orientieren. Da die US-Notenbank Fed als praktisch einzige bedeutende Zentralbank der Welt begonnen hat, die Zinsen anzuheben, steigt der Wechselkurs des Dollar gegen fast jede Währung der Welt. Will China den Kurs des RMB gegenüber dem Währungskorb konstant halten, muss der RMB gegen den USD abwerten.China hat meiner Meinung nach nicht die Absicht, in einen “Währungskrieg” einzutreten oder sich Wettbewerbsvorteile über die Abwertung zu verschaffen. Hierzu sind auch die Wertschöpfungsketten mittlerweile zu sehr globalisiert. Wichtige Input-Faktoren der Produktion, wie zum Beispiel Fertigungsteile der Halbleiterindustrie, werden aus dem Ausland bezogen und würden sich bei starker Abwertung des Renminbi verteuern. Öffnung der richtige WegDie Regierung verliert also nicht die Kontrolle, sondern setzt richtigerweise auf Flexibilisierung. Ich bin überzeugt, dass die Öffnung der chinesischen Volkswirtschaft und vor allem die der Kapital- und Devisenmärkte der richtige Weg ist.Laut unseren Volkswirten in China sollte die Wirtschaft im laufenden Jahr um 6,7 % wachsen. Festgemacht wird diese Zahl an den expansiven geld- und fiskalpolitischen Maßnahmen der letzten Monate.Bereits mehrfach hat die chinesische Zentralbank den Leitzins gesenkt und hat diesbezüglich noch weiteren Spielraum. Unternehmen können sich am heimischen Anleihemarkt dieser Tage deutlich günstiger refinanzieren, als dies noch vor kurzem der Fall war. Hierdurch bedingt stieg zuletzt die Kreditneuvergabe wieder an.In den letzten Jahren war dies ein zuverlässiger Frühindikator für das Wachstum. Insbesondere die regionalen Regierungen und die Immobilieninvestoren dürften sich in den kommenden Monaten durch steigende Investitionen hervortun und neben dem stetig wachsenden Konsum die Wirtschaft stützen.Fazit: Dass China im Moment Probleme hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Der Umbau der Wirtschaft und Gesellschaft sowie der Abbau von Überkapazitäten in der sogenannten “Alten Ökonomie” kosten Wachstum. Ich würde das eher als gesunde Normalisierung bezeichnen. Das Risiko von Politik- und Kommunikationsfehlern ist sicherlich hoch. Die Interventionen an der chinesischen Börse sind ein Beispiel dafür. Man wird auch genau beobachten müssen, wie sich China weiter entwickelt.Ich glaube nicht, dass das sinkende Wachstum in China die Industriestaaten abwärts reißen wird. Jüngst testen die Märkte jedoch die Tiefstände vom letzten September, und ich gehe davon aus, dass uns die Sorgen um Chinas Wachstum und die Rohstoffbaisse wohl noch eine Weile Volatilität bringen werden – vor allem, wenn der Ölpreis weiter so rasant fallen sollte. Aber damit geht die Welt nicht unter.—-Ulrich Stephan, Chefanlagestratege Privat- und Firmenkunden der Deutschen Bank