IM INTERVIEW: CATHERINE YEUNG, FIDELITY

"Chinas Aktienmärkte sind noch nicht über den Berg"

Investment-Expertin erwartet erneute Anpassung der Gewinnerwartungen der Unternehmen - Anleger nehmen Großbanken ins Visier

"Chinas Aktienmärkte sind noch nicht über den Berg"

Der globale Nachfrageschock ist aus Sicht von Catherine Yeung, Investmentdirektorin beim Fondsverwalter Fidelity, am chinesischen Aktienmarkt noch nicht vollständig eingepreist. Allerdings verfügten Regierung und Notenbank immer noch über viel Munition, um Wirtschaft und Märkte zu stützen. Frau Yeung, die chinesische Wirtschaft hat sich im ersten Quartal schwächer entwickelt als jemals seit Beginn der Aufzeichnungen. Auch die großen chinesischen Indizes sind nach ihrer ersten Erholung zeitweise wieder eingebrochen und haben seit Mitte März weniger stark zugelegt als die europäischen Pendants. Wie nachhaltig ist die Erholung?Chinas Aktienmärkte sind noch nicht über den Berg, aber ihre Erholung ist schon deutlich weiter fortgeschritten als die der europäischen Börsen. Wir haben in der Coronakrise eine scharfe Eskalationsphase gesehen, auf die eine Konsolidierung folgte. Nun sind wir definitiv in der Erholungsphase. Aktuell dreht sich die Debatte ja vor allem darum, in welcher Form die Erholung erfolgen wird – ob W-, V-, U- oder gar L-förmig. Was erwarten Sie?Wir rechnen mit einer unkonventionellen Erholung. Die Kurse werden kurzfristig steigen, danach dürften einige Unebenheiten folgen. Das liegt daran, dass der globale Nachfrageschock unserer Ansicht nach noch nicht vollständig eingepreist ist. Denn China ist keineswegs immun gegen eine weltweite Rezession. Generell sehen wir aber definitiv positive Signale aus der Volksrepublik. Chinesische Investoren haben noch viel Cash in der Reserve. Zudem erweisen sich die fiskalpolitischen Maßnahmen der Regierung bisher als effizient, da sie äußerst gezielt eingesetzt werden – zum Beispiel, um die Wirtschaft bestimmter Provinzen anzukurbeln oder bestimmte Branche wie die Automobilindustrie zu stützen. Hätten Regierung und Notenbank nicht früher eingreifen müssen?Die People’s Bank of China (PBOC) hat vermutlich auf die Reaktionen anderer internationaler Zentralbanken gewartet. Die Regierung hat indes weiterhin hohe ausstehende Schulden – sie muss also vorsichtig sein, wie viel Stimuli sie verabschiedet und wie viel Liquidität sie in den Markt pumpt. Allerdings gab es auch schon vor der überraschenden Zinsentscheidung der PBOC vom 29. März einige Maßnahmen, um die Wirtschaft zu stützen, darunter neue Infrastrukturprojekte und Konsumstimuli. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass wir weitere Unterstützungsmaßnahmen sehen werden. Welche Maßnahmen haben sich denn bisher als besonders effektiv erwiesen?Einerseits unterstützen die staatlich geführten Banken kleine und mittel-große Unternehmen mit einer deutlich höheren Kreditvergabe. Anderseits zeigen kleine Impulse für den Konsum große Wirkung. In Hangzhou zum Beispiel wurden vergangenen Monat über den Online-Bezahldienst von Alibaba Einkaufsgutscheine ausgegeben. Innerhalb von nicht einmal vier Tagen hatten die dadurch ausgelösten Konsumausgaben ein Volumen 453 Mill. Yuan erreicht – das 15-Fache des Gegenwerts der Voucher. Wir erwarten mehr solcher Maßnahmen, die darauf abzielen, die Kauflaune der Verbraucher zu stärken. Dennoch fordern prominente Ökonomen weiterhin eine stärkere Reaktion aus Peking. Wie viel Spielraum besitzen Regierung und Notenbank denn in der aktuellen Krise?Sowohl auf der fiskal- als auch auf der geldpolitischen Seite verfügt China noch über viel Munition. Im Gegensatz zu den großen westlichen Zentralbanken hat die PBOC ihren Leitzins noch nicht auf null gesenkt, was ein entscheidender Vorteil ist. Zudem gibt es noch Spielraum, die Bilanz auszuweiten. Nach der nächsten Sitzung des Volkskongresses, die vom ursprünglich geplanten Termin Anfang März auf Ende dieses Monats verschoben wurde, könnte es zudem weitere positive Überraschungen für die Wirtschaft geben. Worin bestehen denn im aktuellen Umfeld die größten Risiken aus chinesischer Sicht?Vor allem in einer Überstimulation und einer zu großen Ausweitung des Haushaltsdefizits. Zudem wäre ein Abschwung am Immobilienmarkt, der immer noch das Rückgrat der chinesischen Wirtschaft darstellt, extrem schädlich für die Stimmung der Verbraucher. Das würde sich auch auf die Anleger am chinesischen Aktienmarkt auswirken. Natürlich hängt aktuell viel davon ab, wie die Pandemie weiterhin verläuft. Die Angst vor einer zweiten Viruswelle ist nicht zu vernachlässigen. Zudem ist noch unklar, wie stark sich die globale Nachfrageschwäche auf die Gewinne chinesischer Unternehmen auswirken wird. Meiner Meinung nach werden die Gewinnerwartungen für 2020 noch einmal deutlich nach unten angepasst werden müssen. Wie groß ist denn die Gefahr, die derzeit von den politischen Spannungen zwischen Peking und Washington ausgeht?Die Dynamik zwischen den USA und China in der Coronakrise ermöglicht interessante Rückschlüsse. Unabhängig davon, wie die Pandemie weiterhin verläuft, haben sich die Beziehungen zwischen den USA und China verschoben, da China heute wesentlich wettbewerbsfähiger ist und die chinesische Industrie in der globalen Wertschöpfungskette weiter aufsteigen wird. Welche chinesischen Sub-Sektoren zeigen denn bereits eine besonders starke Erholung?Fundamental betrachtet stich aktuell noch keiner besonders hervor. Aus Regierungsperspektive liegt allerdings ein besonderer Fokus darauf, die großen inländischen Biotech-Unternehmen im Wettbewerb mit den globalen Pharma- und Healthcare-Playern zu stärken. Diese werden deutlich mehr Ressourcen in Entwicklung und Forschung investieren und sich auch am heimischen Markt noch stärker ausbreiten. Die Coronakrise führt den Verantwortlichen ja vor Augen, wie wichtig ein breiter öffentlicher Zugang zur Gesundheitsversorgung ist. Die Regierung wird die inländischen Unternehmen des Sektors schon aus Eigeninteresse stützen. Hinzu kommt das hohe Innovationspotenzial Chinas im Healthcare-Bereich. Wie ordnen Sie im Vergleich dazu denn das Potenzial des chinesischen Dienstleistungssektors für Investoren ein?Viele Investoren wenden sich weltweit in den vergangenen Wochen von Growth ab und Value zu. Dieser Trend war in China weniger markant, jedoch sind die Finanzinstitute der Volksrepublik jüngst stärker in den Fokus gerückt. Obwohl die großen chinesischen Banken durch die hohe Kreditvergabe bisher die Hauptbürde der Stimuli tragen, zahlen sie immer noch sehr attraktive Dividenden aus. Außerdem ist die Qualität ihrer Kreditportfolios hoch und sie befinden sich in Staatsbesitz. Mit welcher Entwicklung rechnen Sie für die Telekomdienstleister?Die Stimmung der Investoren gegenüber der Branche hat sich zuletzt wegen der Furcht vor steigenden Investitionsausgaben eingetrübt. Wir halten die Sorgen diesbezüglich aber für übersteigert, da die Investitionsausgaben am unteren Ende der Erwartungen liegen sollten. Die 5G-Technologie ist ein großer Vorteil für die chinesische Wirtschaft und bietet Raum für die weitere Entwicklung des Online-Handels sowie weiterer onlinebasierter Technologien. Für welche Branchen in China verzögert sich die Erholung von der Coronakrise noch?Die Luftfahrtbranche ist sicherlich stark davon abhängig, ob sich das Reiseverhalten durch die Krise nachhaltig ändert. So ist es zum Beispiel möglich, dass es künftig deutlich weniger Geschäftsreisen geben wird, da sich viele Unternehmen an Videokonferenzen gewöhnen könnten. Sollte auch die Nachfrage bei privaten Flugreisen langfristig unter Druck bleiben, wird das aber nicht nur die chinesischen, sondern auch die internationalen Airlines treffen. Denn chinesische Touristen sind noch immer der größte Wachstumstreiber für die globale Reisebranche. Das Interview führte Alex Wehnert.