Das Jahr 2023 wird besser als sein Vorgänger
Von Jörg Scherer*)
Der Investmentjahrgang 2022 war gespickt mit diversen Herausforderungen. Besonders die zeitgleiche Schwäche der internationalen Aktienmärkte – flankiert durch einen historisch beispiellosen „Drawdown“ auf der Rentenseite – stellte Anlegerinnen und Anleger vor immer neue Schwierigkeiten. Da auch der Goldpreis keinen wirklichen Rettungsanker darstellte, kann das Jahr 2023 eigentlich nur besser werden. Doch ist diese Hoffnung berechtigt? Wir begeben uns auf eine charttechnische Spurensuche.
Als argumentativen Einstieg in unseren Aktienausblick wählen wir den Jahreschart des Dow Jones. Durch die Analyse hoher Zeitebenen lassen sich oftmals die großen Trends identifizieren, welche Investoren im hektischen Tagesgeschäft gerne mal aus den Augen verlieren. Dank der starken Performance im vierten Quartal notiert der Dow Jones weiterhin im Dunstkreis der Trendlinie, welche die Hochpunkte von 1929 und vom Jahrtausendwechsel 1999/2000 verbindet (siehe Chart; aktuell bei 36791 Punkten). Das Ausloten dieser ultralangfristigen Trendlinie verdeutlicht, wie weit der idealtypische Investmentzeitraum seit 2009 die US-Märkte gen Norden geführt hat. Interessanterweise harmoniert die beschriebene Trendlinie bestens mit den Jahreshochs der letzten beiden Jahre bei 36679/36953 Punkten. Mit dem dadurch entstehenden Kreuzwiderstand haben wir eine erste Schlüsselzone für das 2023er-Stammbuch herausgearbeitet. Auf der Unterseite bilden indes die Extrempole der letzten drei Jahre (30637/29856/28661 Punkte) zusammen mit der 261,8-Prozent-Projektion der Rally von 1974 bis 2000 (29840 Punkte) sowie dem entsprechenden Pendant des Hausseimpulses von 1932 bis 2000 (30697 Punkte) eine absolute Kernhaltezone, welche als „Katastrophen-Stopp 2023“ prädestiniert ist.
„Outside Year“
Die Jahreskerze von 2022 bildet darüber hinaus einen sogenannten „Hammer“. Dieses Umkehrmuster aus der Candlestick-Analyse untermauert die Bedeutung der diskutierten strategischen Stop-Loss-Marken. Möglicherweise haben Investorinnen und Investoren an dieser Stelle ein Déjà-vu: Vor zwei Jahren lag beim Dow Jones eine vergleichbare Kerzenformation vor! Der damalige „Hammer“ war ein gutes Omen für das Jahr 2021. Bei genauem Hinsehen ergibt sich noch eine weitere Gemeinsamkeit. Analog zu 2020 verfügt auch die 2022er-Jahreskerze über ein höheres Hoch und ein tieferes Tief als das Vorjahrespendant. Da die Leitplanken von 2021 gesprengt werden, liegt also ein so genanntes „Outside Year“ vor. Grundsätzlich legt dieses besondere Kursmuster eine prozyklische Positionierung im Ausbruchsfall nahe, womit wir wieder bei den erwähnten strategischen Stellschrauben wären. Auch im historischen Kontext macht das „Outside Year“ Mut: Seit 1897 kam es beim Dow Jones zu insgesamt neun solcher Außenstäbe. Mit einer Wahrscheinlichkeit von fast 78% brachten die folgenden zwölf Monate in den USA Kursgewinne. Der durchschnittliche Zuwachs liegt mit fast 14% deutlich über der gemittelten Performance der letzten 120 Jahre.
Die hohe Zeitebene wollen wir im Folgenden herunterbrechen. In der Verknüpfung unterschiedlicher Zeitebenen liegt ein entscheidender Vorteil der technischen Analyse. Dank der starken Erholung im Verlauf des vierten Quartals gelang den US-Standardwerten sogar der Spurt über das Widerstandsbündel aus dem seit Anfang 2022 bestehenden Abwärtstrend (aktuell bei 32102 Punkten) und der 50-Wochen-Linie (aktuell bei 32742 Punkten). Übergeordnet kann die Korrekturphase seit Januar 2022 letztlich als große Flaggenkonsolidierung – und somit als trendbestätigendes Kursmuster – interpretiert werden. Dieser Befreiungsschlag stellt deshalb einen echten Gamechanger dar. Vereinfacht ausgedrückt markiert die übersprungene Schlüsselzone die Schwelle zwischen einer „Bärenmarktrally“ und dem „Beginn eines neuen Haussetrends“. Die beschriebene charttechnische Steilvorlage passt sehr gut zu den zyklischen Rahmenbedingungen und steht im Widerspruch zur gegenwärtigen Mehrheitsmeinung „schwieriger Jahresauftakt“.
Überraschungspotenzial
Einen wichtigen Einflussfaktor stellt in diesem Kontext der US-Präsidentschaftszyklus dar. 2023 ist ein Vorwahljahr, das sich innerhalb des vierjährigen Wahlzyklus durch einen dynamischen Start ins Jahr auszeichnet. Besonders die Performance der ersten vier Monate ist mit einem Plus von 9% ein echter Hingucker und würde die Mehrheit der Anlegerinnen und Anleger auf dem falschen Fuß erwischen. Da von den insgesamt 31 Vorwahljahren 25 mit Kursgewinnen beim Dow Jones enden, weiß auch die Trefferquote von gut 80 % zu überzeugen. Zur zyklischen Wahrheit gehört im Jahr vor der US-Präsidentschaftswahl aber auch, dass die zweite Jahreshälfte kaum noch weitere Kursavancen mit sich bringt. So wird das zyklische Hoch von Anfang September erst zum Jahresultimo wieder erreicht. Der Faktor „Saisonalität“ legt also ein gänzlich anderes Ablaufmuster nahe.
Beim Kursverlauf des Dow Jones handelt es sich zu Jahresbeginn 2023 um einen der stärksten Charts überhaupt. Möglicherweise auch ein Hinweis bezüglich der Attraktivität traditioneller Branchen. Entsprechend könnte die „Old Economy“ im neuen Jahr positiv überraschen.
*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.