IM INTERVIEW: ANDREAS HÜRKAMP, COMMERZBANK

"Der Dax ist im Grunde genommen ein Autoindex"

Stratege sieht in inverser US-Zinsstrukturkurve ein Warnsignal und rät Investoren dazu, mit Gewinnmitnahmen zu beginnen

"Der Dax ist im Grunde genommen ein Autoindex"

Einen Bärenmarkt erwartet Andreas Hürkamp für dieses Jahr noch nicht. Allerdings glaubt der Aktienstratege der Commerzbank, dass der Aktienmarkt auf den erreichten Höhen weitgehend ausgereizt ist. Sorgen bereiten ihm unter anderem die flache US-Zinsstrukturkurve sowie das niedrige Geldmengenwachstum und der stark gesunkene Autoabsatz in China, der gerade für den Dax ein Problem ist. – Herr Hürkamp, Sie haben kürzlich Ihr Dax-Ziel reduziert. Was hat Sie skeptischer gemacht?Mein Dax-Ziel für das Jahresende liegt nun bei 11 800 Punkten. Ich rechne mit einer Schaukelbörse, und wir sind jetzt im oberen Bereich der von mir erwarteten Trading-Range angekommen. Zusammengefasst stehe ich mittlerweile mit einem Bein im Bärenlager. Skeptisch stimmt mich unter anderem das Wachstum der Geldmenge M1 in China, das im vierten Quartal 2018 auf 0 % gefallen ist. Der Automarkt des Landes ist regelrecht eingebrochen, was ein starker Bärenfaktor für den Dax ist. Im Januar und im Februar lag der Absatz 17 % unter Vorjahresniveau, und erste Indikationen deuten darauf hin, dass er auch im März um mehr als 10 % zurückgegangen ist.- Wie wichtig ist die Automobilbranche für den deutschen Aktienmarkt?Der Dax ist im Grunde genommen ein Autoindex. Auf Conti und die drei Autohersteller entfallen 45 % der erwarteten Erlöse und mehr als 30 % der erwarteten Gewinne der Dax-Unternehmen. Zählt man noch BASF, Covestro oder Infineon mit ihrem Autogeschäft hinzu, kommen mehr als 50 % der Erlöse und wahrscheinlich 40 % der Gewinne aus der Autobranche.- Wie sieht die weitere Entwicklung aus?Es ist keine wesentliche Besserung in Sicht. 2016 hatten wir im Jahresverlauf ein starkes Dax-Jahr. Doch damals ist die chinesische M1-Geldmenge um 20 % gestiegen, und der Automobilabsatz des Landes zog im zweiten Halbjahr ebenfalls um mehr als 20 % an. Die chinesische Zentralbank setzte mit sechs Leitzinssenkungen um insgesamt 200 Basispunkte ein starkes Zeichen und löste damit eine fulminante Trendwende aus. So etwas macht sie in diesem Jahr nicht. Sie hat zwar die Mindestreservesätze gesenkt, aber das sieht der Konsument nicht. Die M1-Geldmenge wächst derzeit nur um 2 %. Daher erwarte ich kein starkes Jahr für den Dax, sondern eben eine Schaukelbörse. Ein weiterer monetärer Bärentrend ist die flache US-Zinsstrukturkurve.- Was bedeutet sie für den Aktienmarkt?Die Verzinsung der zehnjährigen Treasury ist auf das Niveau der Fed Funds Rate gesunken. Eine derartige Verflachung der US-Zinsstrukturkurve kommt relativ selten vor und zeigt mit hoher Zuverlässigkeit eine Aktienmarktschwäche an, so zuletzt Ende der neunziger Jahre und 2006/07. Damals wurde behauptet, dass die flache Zinskurve keine große Bedeutung mehr habe, weil es wegen des Technologie- beziehungsweise des Globalisierungsbooms angeblich keinen Zyklus mehr gebe. Auch dieses Mal wird die Entwicklung kleingeredet. Die flache Kurve soll angeblich kein Warnsignal sein, weil die Notenbanken den Markt mit ihren Anleihekäufen verzerren. Die Anleihekäufe sind sicherlich ein Gegenargument. Aber ich nehme das Warnsignal der inversen US-Zinsstruktur sehr ernst.- Welche Schlüsse sollen die Anleger daraus ziehen?Ich empfehle Investoren, dass man jetzt auch bei US-Aktien beginnen muss, mögliche Gewinne mitzunehmen. Wer das Glück hat, dass er zu Beginn des Aktienmarktzyklus im Jahr 2009 einen Nasdaq-100-ETF für weniger als 10 Euro gekauft hat, sollte jetzt angesichts des negativen Signals der Zinskurve bei Kursen um 70 Euro beginnen, seine Buchgewinne Schritt für Schritt zu realisieren. Die Zeit für die jahrelang bewährte Buy-and-hold-Strategie ist vorbei. Auch für den US-Aktienmarkt ist eine Schaukelbörse wahrscheinlich geworden. Es kann zwar durchaus wie 2006 noch ein Jahr dauern, bis eine nachhaltige Aktienschwäche einsetzt. Aber es ist jetzt schon Zeit, in guten Marktphasen Buchgewinne stetig zu realisieren.- Welche Rolle spielen die Veränderungen in der globalen Geldpolitik?Unter dem Eindruck der großen Konjunktursorgen mit einbrechenden Aktienmärkten im vierten Quartal ist die Geldpolitik nochmals wieder expansiver geworden. Die Europäische Zentralbank hat die erste Leitzinserhöhung auf nächstes Jahr verschoben und neue langfristige Refinanzierungsgeschäfte, sogenannte TLTROs, angekündigt, in China wurden wie erwähnt die Mindestreservesätze gesenkt, und die Fed hat eine Zinsanhebungspause verkündet. Damit haben die Notenbanken verhindert, dass der Bullenmarkt schon jetzt in einen Bärenmarkt abrutscht. Auch die Politik hat auf den Aktienmarkteinbruch reagiert. Es wird wohl demnächst einen Handelsdeal geben, weil sich die US-Regierung mit China an den Tisch gesetzt hat, um ernsthaft zu verhandeln. Das ist auch der entscheidende Grund für die vorübergehende Erholung der Aktienmärkte.- Warum vorübergehend?Es deuten mehr und mehr Signale darauf hin, dass der zehn Jahre alte Bullenmarkt ausläuft. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass wir nächstes Jahr unter Führung der US-Märkte das Ende des Bullenmarktes sehen werden. Die jüngsten Maßnahmen der Notenbanken halten den Markt in diesem Jahr noch in ruhigem Fahrwasser. Nächstes Jahr wird die Fed unserer Einschätzung nach aufgrund einer ökonomischen Eintrübung aber beginnen müssen, ihren Leitzins wieder zu senken. Außerdem verliert der US-Aktienmarkt im kommenden Jahr eine wichtige Stütze: Der Boom der Aktienrückkäufe wird auslaufen. Die steuerlich bedingten Repatriierungen laufen aus. Das Geld, das die US-Unternehmen nach Amerika zurückgebracht haben, ist verfrühstückt. Zudem funktioniert die Verschuldung mit Unternehmensanleihen zur Finanzierung von Rückkäufen nicht mehr, weil die Renditen gestiegen sind. Derzeit kaufen die Unternehmen im S&P 500 Aktien für rund 200 Mrd. Dollar pro Quartal zurück. 2020 gehen die Käufe dramatisch zurück – ein sehr wichtiger Grund, warum der US-Aktienmarkt im nächsten Jahr Probleme bekommen wird.- Wie sieht die bewertungstechnische Lage aus?Auch die Bewertung sendet Warnsignale aus. Das Kurs-Buch-Verhältnis des S&P 500 liegt bei 3,2, bei einem langfristigen Mittel von 2,4. Der Markt ist also um 30 % höher bewertet als in seinem langfristigen Mittel. Das ist eine typische Bewertung für die Endphase eines Bullenmarktes.- Was für eine Strategie empfehlen Sie für die von Ihnen erwartete Schaukelbörse?Wir empfehlen, in Phasen, in denen der VDax bei 10 bis 15 liegt, Positionen abzubauen. Phasen, in denen der VDax bei 20 bis 25 liegt, können nochmals genutzt werden, kurzfristig wieder Positionen aufzubauen. Weil die Notenbanken in diesem Jahr noch im Boot der Aktienbullen sitzen und versuchen, das Wachstum zu stützen, ist der Start eines Bärenmarktes in diesem Jahr unwahrscheinlich geworden. Aber es gibt jetzt auch nicht mehr viel Luft nach oben. Im Dezember, als fast jeder über eine Rezession sprach, war der Markt zu pessimistisch. Jetzt erwartet man einen starken Aufschwung, getragen von einer Trendwende in China. Das ist zu optimistisch, gerade für Deutschland, weil der chinesische Autoabsatz wahrscheinlich relativ schwach bleiben wird.- Was könnten positive Impulse für den deutschen Aktienmarkt sein?Diese müssten aus China kommen. Zum Beispiel eine Entscheidung der chinesischen Zentralbank, wie vor drei Jahren doch zu Leitzinssenkungen zu greifen. Oder aber eine Entscheidung zu einem neuen Programm zur Subventionierung des Autoabsatzes.- Was empfehlen Sie im aktuellen Umfeld bezüglich der Sektorpositionierung?Wir raten regelmäßig zu Branchen mit stabilen Gewinnerwartungen. Die Versicherer sind der stabile Anker des Dax. Neben stabilen Gewinnerwartungen haben sie auch hohe und stabile Dividenden. Man kann diese Aktien derzeit sogar noch kaufen und liegen lassen. Auch die Versorger kann man in der Schaukelbörse gut halten, denn sie weisen erstmals seit vielen Jahren stabile Gewinnerwartungen auf. Relativ robuste Ergebnisaussichten weist ferner die Technologiebranche auf. Insgesamt ist die Sektorpositionierung relativ defensiv ausgerichtet.- Sollen Zykliker also gemieden werden?Alles, was zyklisch ist, hat derzeit stark sinkende Gewinnerwartungen. Diese Branchen würde ich zum Traden nutzen. Wenn sich der Markt gut entwickelt wie aktuell, sind Zykliker, etwa Auto-, Chemie- und Industriewerte, zu reduzieren. Steigt der VDax auf 20 bis 25, kann man sie auf eine kurze Frist von zwei oder drei Monaten nochmals kaufen.- Sind die Dividenden noch ein Argument pro Aktien?Die Ausschüttungen der Dax-Unternehmen werden nach 17 % im vergangenen Jahr und 8 % 2017 in diesem Jahr nur noch um 3 % wachsen. Aber sie erreichen mit rund 38 Mrd. Euro erneut einen Rekord. Es gibt 21 Erhöhungen im Dax. Außerdem kaufen sechs Unternehmen Aktien im Volumen von rund 7 Mrd. Euro zurück. Die Dividendenrendite bleibt mit 3,3 % eines der größten Bullenargumente, gerade angesichts der 0 %, die man vom deutschen Staat für eine zehnjährige Anleihe erhält.—-Das Interview führte Christopher Kalbhenn.