IM INTERVIEW: CHRISTIAN KAHLER, DZ BANK

"Der faire Wert des Dax liegt bei 11 000 Punkten"

Chefanlagestratege: An den fundamentalen Faktoren hat sich nichts verändert - Die Anleiherenditen werden wieder sinken

"Der faire Wert des Dax liegt bei 11 000 Punkten"

Nach den kräftigen Gewinnen der ersten Monate ist es im Frühjahr zu einer deutlichen Korrektur am Aktienmarkt gekommen. Dazu haben die immer prekärere Finanzlage Griechenlands, aber auch der ungewöhnlich scharfe Anstieg der Bundrenditen beigetragen. Die Börsen-Zeitung hat Christian Kahler, Chefanlagestratege der DZ Bank, zu seiner Einschätzung der Aussichten des Aktienmarkts befragt.- Herr Kahler, der Aktienmarkt ist deutlich zurückgekommen, im Dax war zuletzt ein Stand von weniger als 11 000 Punkten zu sehen. Wie geht es Ihrer Einschätzung nach weiter?Wir haben gerade unsere neue Kursprognose zur Jahresmitte 2016 veröffentlicht. Mit rund 11 000 liegt der Index heute genau da, wo wir ihn nun zur Jahresmitte 2016 erwarten. Auch der faire Wert des Dax liegt unserer Meinung nach bei 11 000 Punkten. Unsere Prognose für das Jahresende 2015 lautet jedoch unverändert auf 12 500 Zähler. Allerdings rechnen wir damit, dass die vermeintliche Vollkaskoversicherung der Notenbanken den Dax noch einmal auf 12 500 Zähler treiben kann.- Bleiben fundamentale Dinge wie Unternehmensgewinne weiterhin ohne nennenswerten Einfluss auf die Kurse?Unserer Meinung nach wird es im kommenden Jahr zu einem Comeback der fundamentalen Faktoren kommen. Das bis 2016 anhaltende Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank dürfte bis dahin ausgepreist sein. Nach unserer Einschätzung wird der Dax dann wieder auf 11 000 Punkte zurückfallen.- Viele Marktbeobachter rechnen mit einem volatilen Sommer am Aktienmarkt und an anderen Märkten. Wie ist Ihre Einschätzung?Wir rechnen für den Aktienmarkt mit einem eher ruhigen Sommer, auch weil sich die Konjunkturdaten in Südeuropa zuletzt stark besser gezeigt haben. In Spanien und Italien haben die Einkaufsmanagerindizes zuletzt mehrjährige Höchststände erreicht. Ein potenzieller Unruhefaktor ist allerdings Griechenland. Insgesamt stellen wir jedoch eine konjunkturelle Stabilisierung der Eurozone fest.- Warum wird es Ihrer Meinung nach im weiteren Jahresverlauf am Aktienmarkt wieder bergauf gehen?Wir glauben, dass sich das, was die EZB macht, dann wieder positiv am Aktienmarkt bemerkbar machen wird. Unabhängig von der aktuellen Unruhe hat sich an den grundlegenden Dingen – das sind neben der besseren Eurolandkonjunktur der gesunkene Euro, die niedrigen Zinsen und der ebenfalls niedrigere Ölpreis – nichts geändert. Die Makrofaktoren für den Aktienmarkt sind gleichgeblieben. Beim Rekordhoch vom April von knapp 12 400 Punkten lag der Dax 25 % über seiner 200-Tage-Linie. Das entspricht zwar nicht dem während der Dotcom-Blase erreichten Hoch von 40 %, ist aber extrem hoch und bedeutete eine Übertreibung. Das droht sich im vierten Halbjahr zu wiederholen.- Sie veranschlagen den fairen Wert des Dax mit 11 000 Zählern. Wie ergibt sich dieser Wert?Bei einem durchschnittlichen Kurs-Buchwert-Verhältnis von 1,7, das dem Durchschnitt seit dem Jahr 1980 entspricht, ergibt sich ein Dax-Stand von 9 700 Punkten. Schlägt man eine Standardabweichung auf, erhält man einen Indexstand von 12 500 Zählern. Unserer Meinung nach wäre das zu hoch. Wir halten in dem aktuellen Umfeld einer konjunkturellen Erholung einen Aufschlag von einer halben Standardabweichung für angemessen.- In der Hausse seit dem Herbst 2014 haben vor allem die Aktien der Automobilbranche zugelegt. Erwarten Sie Ähnliches vom nächsten Marktaufschwung?Wir halten die Automobilbranche für einen spannenden Sektor. Bewertungsmäßig befindet er sich unter den europäischen Sektoren im Mittelfeld. Rein optisch ist der Sektor mit einem KGV von 11 jetzt attraktiv. Die Dividendenrendite ist mit 2,8 % nicht mehr überdurchschnittlich, liegt aber auf einem vernünftigen Niveau.- Was halten Sie von Bankenaktien?Wenn die Zinsen steigen, ist das für Banken positiv. Momentan schränken die negativen Impulse aber noch die Geschäftschancen ein. Dazu zählen die Regulierung und das derzeit noch nachlassende Investment-Banking-Geschäft im zinssensitiven Bereich. Der Fall HSBC hat gezeigt, wie schwer es die Branche derzeit noch hat. Optisch ist sie mit einem Kurs-Buchwert-Verhältnis von 0,8 und einem KGV von 11 jedoch der günstigste Sektor.- Die heftigen Bewegungen bei den Anleiherenditen haben am Aktienmarkt für Verunsicherung gesorgt. Wie beurteilen Sie die hohe Bondvolatilität?Seit April ist die Rendite der Zehnjährigen von 5 Basispunkten auf 1 % geklettert. Das ist der kräftigste Renditeanstieg in Deutschland der zurückliegenden Jahrzehnte, aber wir sind der Meinung, dass der Markt stark verzerrt ist. Grund ist die mangelnde Liquidität. Wegen der regulatorischen Eigenkapitalbelastung des Eigenhandels sind die Bücher der Banken geschlossen. Da mutmaßlich die EZB der einzige Käufer auf dem erreichten Bewertungsniveau ist, sie aber regelmäßig und nicht opportunistisch kauft, ist es derzeit möglich, mit vergleichsweise kleinen Transaktionen heftige Marktreaktionen auszulösen. Der steile Anstieg der Bundrenditen hat sich auch in anderen Staatsanleihemärkten, etwa in Italien, Frankreich und Großbritannien, bemerkbar gemacht.- Viele Marktteilnehmer machen sich Sorgen, dass der seit Anfang der achtziger Jahre anhaltende Abwärtstrend der Bundrenditen beendet ist beziehungsweise nun in die große Zinswende mündet. Was glauben Sie?Wir glauben nicht, dass das schon die nachhaltige Zinswende ist, sondern dass die Renditen wieder sinken werden. Gegen die Zinswende in Europa spricht zunächst die schiere Größe des EZB-Anleihekaufprogramms. In den USA gibt es allerdings im Anleihebereich bereits die Zinswende. Die erste Leitzinserhöhung erwarten wir angesichts der hinter den Erwartungen zurückgebliebenen Konjunkturdaten eher im ersten Quartal 2016 als noch im laufenden Jahr. In Europa ist die Zinswende vertagt, in den USA hat sie bereits begonnen.- Was bedeutet das für die Aktienmärkte?Dass der Abwärtstrend der Anleiherenditen in den USA beendet ist, ist für den Aktienmarkt ein Warnsignal. Denn gleichzeitig ist die Bewertung des amerikanischen Aktienmarkts relativ hoch. Das Shiller-KGV, auf das wir schauen und das kurzfristige Schwankungen glättet, ist mit 27 um zwei Drittel höher als im Durchschnitt seit dem Jahr 1881. Der Aktienmarkt kann nur aus der Bredouille kommen, wenn die Anleiherenditen in den kommenden fünf bis zehn Jahren dort verharren, wo sie derzeit sind. Das halten wir für wenig wahrscheinlich. Von daher haben der S & P 500 und der Nasdaq Composite ein stärkeres Risiko einer deutlicheren Korrektur. Allerdings ist das Timing einer solchen Korrektur schwierig. Große Marktveränderungen ereignen sich allerdings vielfach in Phasen, in denen sich die Notenbanken in die eine oder die andere Richtung drehen.- Ist China ein größerer Risikofaktor?Um das Wachstum in China machen wir uns keine großen Sorgen. Es wird sich unserer Meinung nach wie von der Regierung geplant in einem Bereich um 7 % bewegen. Das Land verfügt noch über fiskalische Reserven.- Ist das, was am chinesischen Aktienmarkt geschieht, nicht eine Blase, die Risiken birgt?Viele Chinesen zocken auf Kredit, und das kann noch lange dauern. Sie gehen aus dem nicht mehr als so attraktiv geltenden Immobilienmarkt raus, haben aber kaum Anlagealternativen, unter anderem, weil sie nicht im Ausland investieren können. Das könnte durchaus in einer heftigen Abwärtsbewegung münden. Die Chinesen gehen aber auch nicht mit Haus und Hof in den Markt, sondern mit eher begrenzten spekulativen Budgets. Im Falle einer stärkeren Korrektur wird es unserer Meinung nach nicht zu negativen Rückkopplungen auf die Realwirtschaft kommen.- Bestehen nicht Parallelen zur Dotcom-Blase?Der chinesische Aktienmarkt ist noch nicht so stark gestiegen wie der Nasdaq Composite während der Dotcom-Blase. Seine Entwicklung ist eher mit dem Jahr 2007 vergleichbar. Die Frage ist vielmehr, ob die China-Hausse nicht eine Blaupause für andere Länder, auch Industrienationen ist. Denn dort besteht aufgrund der Niedrigzinsen ebenfalls ein Mangel an Anlagealternativen. Ein Beispiel dafür sind die Social-Media-Aktien in den USA, die deutlich zu hoch bewertet sind.—-Das Interview führte Christopher Kalbhenn.