Der größte Put aller Zeiten
Die Entwicklung an den Aktienmärkten im ersten Halbjahr ist beeindruckend, und zwar sowohl hinsichtlich des Ausmaßes als auch der Geschwindigkeit der Kursentwicklung. Und das gilt nicht nur für die Aktienmärkte, sondern auch für das Segment der europäischen Unternehmensanleihen. “Niemals zuvor sind die Aktienmärkte so schnell so tief gefallen, und niemals zuvor haben sie sich von einem derartigen Kurseinbruch so schnell wieder erholt”, hält Carsten Klude, Chefvolkswirt von M.M. Warburg & Co in Hamburg, in seinem wöchentlichen Marktausblick fest. Er fährt fort: “Diejenigen, die das erste Halbjahr verschlafen haben, würden wohl mit Blick auf die Kurse vom 30. Juni kaum auf die Idee kommen, dass sie einen schwarzen Schwan namens Covid-19 verpasst haben, der zu turbulenten Kursentwicklungen und schweren Marktverwerfungen geführt hat.”Triebfeder der enormen Rally sowohl bei den Aktien – die Nasdaq erreichte schon wieder Rekordniveau – als auch bei europäischen Unternehmensbonds ist der gigantische Zentralbanken-Put. Rund um den Globus fluten die Notenbanken die Märkte mit Geld. Anleihen werden in Hülle und Fülle aufgekauft. Die Maßnahmen im Rahmen des Quantitative Easing (QE) seitens der US-Notenbank Fed, der Europäischen Zentralbank (EZB) und anderer Notenbanken hinterlassen offenkundig bei nicht gerade wenigen Anlegern den Eindruck, dass die Geldschwemme der vergangenen Jahre wohl niemals mehr enden wird. Das hat Aktienmärkte schon jahrelang befeuert. Und die Bondkäufe der Währungshüter an Primär- und Sekundärmärkten haben die erheblichen Spread-Ausweitungen, die im März zu beobachten waren, nicht nur gestoppt. Die Zentralbanken-Käufe und die Wiedereinstiege der Anleger, allen voran in Firmenbonds, haben die Spreads erheblich eingeengt. Es gab eine beeindruckende Rally. Märkte koppeln sich abKlude spricht in diesem Zusammenhang vom wohl größten Put aller Zeiten. “Dies hat zu einer Abkopplung der Kapitalmärkte von der Realwirtschaft beigetragen. Negative wirtschaftliche Konsequenzen, die die Coronakrise mit sich bringen wird, wie die hohe Verschuldung von Staaten und Unternehmen, eine geringere Produktivität und davon ausgehend eine weitere Verlangsamung des Potenzialwachstums sowie zunehmende Verteilungsungleichgewichte werden dagegen im Moment ausgeblendet”, schlussfolgert er. Ob es wirklich der größte Put aller Zeiten ist, der da gerade am Werk ist und Aktien- und Bondkurse antreibt, muss sich erst noch herausstellen. Bei einer zweiten Infektionswelle und einem erneuten Lockdown der Wirtschaft könnte der historische Put noch größer ausfallen.Spannend werden nun die nächsten Wochen. Denn zwei Kräfte werden auf die Märkte und damit auf die Einschätzungen der weiteren wirtschaftlichen Entwicklung wirken. Erstens: das QE der Notenbanken. Die Flutung der Märkte mit billigem Geld hat durchaus das Zeug, die Märkte noch weiter voranzutreiben, vor allem wenn sich an den Märkten der Eindruck verfestigt, dass “noch mehr” gebraucht wird – etwa weil sich eine zweite Infektionswelle andeutet -, und die Zentralbanken nochmals nachlegen. Sollte sich die Fed im Laufe der Krise dazu entschließen, doch noch die Renditestrukturkurve direkt zu kontrollieren, werden die Anleger ein Ende des QE und damit die erste Zinsanhebung wohl gedanklich auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschieben und weiter Aktien kaufen. Das kann also noch ein ganzes Weilchen so weitergehen.Zweitens: die Berichtssaison der Unternehmen für das zweite Quartal. Natürlich wird immer mit Spannung erwartet, wer wie abgeschnitten hat und welchen Ausblick er für die nächsten Monate abgibt. Nun zeigt sich aber, wie sich der Lockdown auf Umsätze, Gewinne, Beschäftigung – Stichworte Kurzarbeit und Entlassungen -, Zulieferprobleme/Lieferketten ausgewirkt hat, aber auch was die Hilfsmaßnahmen der Regierungen in einem kompletten Quartal gemacht haben und vor allem, welche Erwartungshaltung sich in den Firmen auf dieser Grundlage gebildet hat. Und genau das werden sie in den Ausblicken mitteilen. Man sollte sich auf so manch grausige Nachricht einstellen. Und dann dürfte so mancher überlegen, ob ihn die Spreads der Unternehmensbonds noch adäquat für das übernommene Risiko entschädigen. Denn Insolvenzen und andere Default-Ereignisse werden in den nächsten Monaten zu- und nicht abnehmen. Dann wird vermutlich auch mancher Aktienanleger ein wenig hinterfragen, ob die steile Performance gerechtfertigt war oder schon ein bisschen zu weit ging. Da könnten Gewinne auch mal mitgenommen werden.