Der Rubel ist verdächtig stabil
Von Thomas Meißner*)
Der Außenwert des russischen Rubel ist seit mehr als einem Vierteljahr verdächtig stabil, insbesondere vis-à-vis dem Dollar. Seit Juni scheint die Zeitreihe festgenagelt bei 60 Rubel. Im Februar und im März sah die Welt anders aus. Im zeitlichen Umfeld des Beginns von Russlands barbarischem Angriffskrieg gegen die Ukraine befand sich der Rubel in freiem Fall. Aus Regionen um die 80 Rubel schossen die Notierungen in weniger als zwei Wochen auf Werte oberhalb von 130 Rubel. Nachfolgend setzte eine Beruhigung ein, unterstützt durch Leitzinsanhebungen der russischen Zentralbank auf 20%, durch eine Reihe von „Bankfeiertagen“ und durch die Verpflichtung, Deviseneinnahmen abzuliefern. Mittlerweile hat die Zentralbank die Lage wieder im Griff. So steht der Leitzins aktuell wieder bei 7,5%. Eine frei konvertible Währung ist der Rubel bei alledem nicht.
In den vergangenen Quartalen litt die preisliche Wettbewerbsfähigkeit russischer Unternehmen erheblich. Nominal wertete der Rubel binnen Jahresfrist um rund ein Drittel auf, eine erhebliche Belastung für den Unternehmenssektor. Hinzu kommt für diesen eine weitreichende Abkopplung von angestammten Märkten im Zuge verschärfter Sanktionen.
Hart erkämpfte Stabilität
Die vermeintliche makroökonomische Stabilität Russlands ist hart erkämpft. Das erste Quartal wartete beim Bruttoinlandsprodukt in der Jahresbetrachtung mit einem Plus von 3,5% auf. Für das zweite Quartal drehte dies rapide in ein Minus von 4%. Die Entwicklung wird weiter trüb verlaufen. Die Einzelhandelsumsätze lagen im August in realer Rechnung 10% niedriger als zu Jahresbeginn. Für die Industrieproduktion wurde per September Jahr über Jahr ein Minus von 3,1% gemeldet. Bei den Investitionen steht für das zweite Quartal in der Jahresrate ein Rückgang um mehr als ein Viertel zu Buche.
Unter enormer Anspannung leiden auch die öffentlichen Haushalte. Traditionell verschlingt in Russland die Rüstung mehr als ein Zehntel der Staatsausgaben. In Kriegszeiten steigt dieser Posten, zumal wenn überstürzt Hunderttausende zusätzlich zu den Waffen gerufen werden.
Den Rubel stützt ein, aus der Sicht Moskaus, erheblich verbesserter Saldo der Netto-Exporte. Die Ausfuhren, speziell in Form von Energieträgern, haben zwar dem Volumen nach nachgelassen; so bezieht Deutschland aktuell lediglich noch 7% seiner Gasimporte aus Russland. Auch verminderten sich 2022 die Mengen an Rohöl und Ölprodukten radikal, die Russland ausführt. Die Exporte laufen aber aktuell zu im Durchschnitt deutlich höheren Preisen als noch 2021. Umgekehrt sanken Russlands Importe. Für 2021 stand ein Leistungsbilanzüberschuss von rekordhohen 120 Mrd. Dollar zu Buche; die Schätzungen für 2022 liegen weit oberhalb hiervon.
Russland setzt derweil auf Importsubstitution: Viele Waren, vormals aus dem Ausland bezogen, werden nun im Inland erstellt; der Binnenhandel diversifiziert. Auch kann Moskau auf Sanktionsbrecher zählen: China, den Iran, die Türkei oder Griechenland, unter dessen Flagge Schiffe fahren, die Russlands Außenhandel abwickeln.
Diskutiert wird, ob die vom Westen erlassenen Wirtschaftssanktionen ihren Zweck erfüllen. Idealerweise lässt Russland kurzfristig von seinen Kriegszielen ab und zieht sich in die angestammten Grenzen zurück, ohne die Krim. Eine derartige Durchschlagskraft von Sanktionen ist Wunschdenken. Ein langer Atem ist nötig, gepaart mit Glück! Das Beispiel der 1980er Jahre steht vor Augen. Die Staaten des Westens zwangen damals die Sowjetunion in ein Wettrüsten, das deren Wirtschaftskraft unterminierte. Hinzu kamen Cocom-Sanktionen und ein Rohölpreis, der sich in der Dekade bis 1990 in etwa halbierte: Der „Ostblock“ löste sich auf.
Dieser Tage wollen die Staaten des Westens die Einnahmen Russlands und den Know-how-Transfer dorthin treffen. Auf EU-Ebene sind acht Sanktionspakete in Kraft. Russland fiel aus vielen globalen Unternehmensnetzwerken heraus; Unternehmen in vierstelliger Anzahl verließen das Land. Das Produktionspotenzial Russlands leidet. Im Automobil- und im Flugzeugbau herrscht Stillstand vor.
Jede einzelne Sanktion, einmal erlassen, muss so lange in Kraft bleiben, wie deren Anlass weiterbesteht. Große Beachtung zog die Entwicklung der russischen Gold- und Devisenreserven auf sich. Noch im Februar verfügte die russische Zentralbank über ein Polster von rund 640 Mrd. Dollar. Im März „konfiszierten“ die Staaten des Westens rund die Hälfte hiervon, auf Konten in New York, London, Frankfurt. Bis an den aktuellen Rand verringerten sich die Reserven Russlands faktisch auf 250 Mrd. Dollar. Innerhalb von acht Monaten sind netto rund 90 Mrd. Dollar evaporiert. Schrumpfen die russischen Reserven in der zuletzt gesehenen Geschwindigkeit weiter, verbleiben rein rechnerisch weniger als zwei Jahre, bis der Bestand vollständig aufgebraucht ist.
Nicht alles, was die Devisenreserven schmälert, fällt unter die Rubrik „Kapitalflucht“ der Kleptokraten in Moskau. Hier schließt sich der Kreis zum verdächtig stabilen Wechselkurs: Ein Gutteil der zuletzt verbrauchten Reserven diente der Stützung des Rubel-Außenwerts. Hierzu ist die Notenbank wieder berechtigt. Zwischen der Mitte des vorigen Jahrzehnts und dem Beginn des Ukraine-Kriegs war sie von jeglicher Wechselkurssteuerung befreit. Sie gehorchte allein dem Mandat einer Inflationssteuerung. Zu jener Zeit waren hohe Realzinsen Alltag. Was sich so gesehen für die russische Volkswirtschaft über den 24. Februar hinweg nicht änderte: enge finanzwirtschaftliche Bedingungen und eine maue realwirtschaftliche Entwicklung.
Bärendienst für das Land
Wladimir Putin erwies Russland den sprichwörtlichen „Bärendienst“, als er sein Land in den Ukraine-Krieg zwang. An einer sozioökonomischen Entwicklung lag ihm schon zuvor nichts. Die Bedeutung Russlands für die Weltwirtschaft leidet spätestens seit der Krim-Annexion 2014. Der makroökonomischen Stabilität wurde seither das Wachstum untergeordnet.
Junge, gut ausgebildete Menschen verlassen nun das Land. Von 300000 IT-Fachkräften ist die Rede. 700000 Menschen vertrieb die Mobilisierung. 300000 Menschen wurden eingezogen. In Russland etablierte sich in diesem Zusammenhang der Begriff „Mogilisazia“: eine Verbindung aus den Worten für „Mobilisierung“ und „Grab“. Das Humankapital implodiert.
Moskau sucht Orientierung in Peking. Dort wartet eine Rolle als „Juniorpartner“. Russland kann sich aus seiner Paria-Lage nur selbst herauswinden: durch einen Rückzug aus der Ukraine, durch hohe Reparationen an das Nachbarland und durch eine Neuaufstellung des Politiksystems unter demokratischen Vorzeichen. Der Rubel mag derweil weiter seitwärts laufen vis-à-vis dem Dollar oder abwerten; die Finanzmärkte werden nur wenig Notiz nehmen.
*) Dr. Thomas Meißner leitet in der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW) die Abteilung für Makro- und Strategy-Research.