IM INTERVIEW: SEBASTIAN RAEDLER, BANK OF AMERICA

"Der Treibstoff der Märkte ist noch nicht verbraucht"

Chefstratege sieht starke Korrelation von Börsen und Einkaufsmanagerindizes und erwartet baldige Rotation in europäische Value-Aktien

"Der Treibstoff der Märkte ist noch nicht verbraucht"

Die Bank of America sieht für die europäischen Aktienmärkte derzeit noch ein Aufwärtspotenzial von rund 10 %. Dieses stützt sich laut Chefstratege Sebastian Raedler auf die industrielle Erholung. Die Wende erwartet er zum Jahresbeginn – indes schlage bald die Stunde der Value-Aktien. Welche Faktoren werden die europäischen Aktienmärkte auf dem Weg ins neue Jahr am stärksten prägen?Es gibt einige zuverlässige Makro-Relationen, die den Aktienmarkt an-treiben. Unsere Modelle zeigen, dass die sechsmonatigen Veränderungsraten der Einkaufsmanagerindizes (“PMIs”) über die vergangenen 20 Jahre sehr stark mit jenen der Aktienmärkte korreliert sind. Das größte Wachstumspotenzial für die Märkte besteht dieser Logik nach, wenn das Niveau der PMIs und damit auch das Wirtschaftswachstum niedrig sind. Es besteht zu diesem Zeitpunkt das größte Potenzial einer positiven Veränderungsrate. Bei schlechten wirtschaftlichen Daten einzusteigen fällt aber natürlich schwer. Was heißt das für die Marktentwicklung im laufenden Jahr konkret?Die Rally der Aktienmärkte seit März hat entsprechend der PMI-Relation nicht überraschend eingesetzt. Wir haben sehr stark positive Veränderungsraten der PMIs gesehen. In der Eurozone sind sie um 40 Punkte gestiegen. Hierin lag der Haupttreiber für die 25-%-Outperformance der zyklischen Sektoren gegenüber den defensiven. Darüber hinaus resultierte daraus eine vorübergehende Halbierung der Spreads im US-High-Yield-Segment von 1 100 auf 550 Basispunkte und ein Anstieg des Kupferpreises um 40 %. Besteht aus Ihrer Sicht denn noch Potenzial für eine Fortsetzung der Rally?Der Treibstoff, der die Märkte angetrieben hat, wird zwar knapper, ist aber noch nicht verbraucht. Nach einer Rally der europäischen Aktienmärkte um 30 % zwischen März und Juli und einer anschließenden Seitwärtsbewegung sehen wir derzeit noch ein Aufwärtspotenzial von rund 10 %. Der Zenit dieses Aufstiegs wird vermutlich Anfang des ersten Quartals des neuen Jahres erreicht sein. Denn zu diesem Zeitpunkt dürften auch die PMI-Niveaus an ihren Wendepunkt gelangen. Was führt Sie zu dieser Prognose?Der Wiederanstieg der Covid-19-Neuinfektionen in Europa hat über die vergangenen zwei Monate eine weitere Erholung der PMIs verhindert. Wir glauben jedoch, dass die Zahl der Neuinfektionen über die nächsten Monate in Reaktion auf die bisher ergriffenen staatlichen Maßnahmen und die freiwillige Beschränkung der Konsumenten abklingen wird – ganz so, wie wir es in den USA im Sommer gesehen haben. Das sollte den PMIs erlauben, das aus fundamentaler Sicht weiter vorhandene Reboundpotenzial zu realisieren – vor allem wegen der fortschreitenden industriellen Erholung. Das verarbeitende Gewerbe ist seit dem zweiten Quartal extrem stark gewachsen, bleibt aber 6 % unter dem Vorkrisenniveau. Wenn sich diese Lücke weiter schließt, dann sollte das dem Eurozonen-PMI vom jetzigen Stand von 50 auf ein Niveau von 56 zum Anfang nächsten Jahres helfen. Welches Niveau erwarten Sie für die europäischen Aktienmärkte bis Jahresende konkret?Wir gehen davon aus, dass der Stoxx 600 zu Beginn des neuen Jahres mit 400 Punkten seinen vorläufigen Höchststand erreichen wird und sich dann bis Ende März leicht auf ein Niveau von 390 Punkte abschwächen wird. Welche Faktoren außer den PMI-Veränderungsraten sind denn noch entscheidend?Insbesondere die Währungen. Der Anstieg des Euro hat sich in den vergangenen Monaten als Gegenwind für die europäischen Aktienmärkte gezeigt. Sehr wichtig sind auch der Realzins und im Zusammenhang damit die Renditen am Bondmarkt. Seit März haben Aktien ein Goldi-locks-Szenario von sich verbesserndem Wachstum und abfallenden Realzinsen genossen. Seit Anfang September haben Realzinsen aber begonnen wieder zu steigen. Wir erwarten, dass sich diese Entwicklung fortsetzt. Weshalb?Realzinsen sind ein gutes Messinstrument für den Standpunkt der Zentralbanken. Weder die Fed noch die EZB operieren in einem Vakuum. Sie reagieren auf die gleichen Makrodaten wie der Großteil der Marktteilnehmer auch. Wenn die PMIs stark abfallen, dann lockern die Zentralbanken die Geldpolitik – um sie dann wieder anzuziehen, wenn sich die Wirtschaftslage verbessert. Zum ersten Mal seit Anfang der Krise ist das Momentum der globalen PMIs jetzt wieder in den positiven Bereich gestiegen, und dementsprechend hat sich auch die Fed von Policy-Optionen wie einer negativen Fed Funds Rate oder Zinskurvenkontrolle wegbewegt. Wenn sich diese Wegbewegung von der Lockerung der Geldpolitik fortsetzt, wird das zu einem weiteren Anstieg der Realzinsen führen. Allerdings gewährt sich die Fed künftig mehr Spielraum beim An-steuern ihres Inflationsziels. Was bedeutet die höhere Flexibilität Ihrer Ansicht nach mittelfristig für die Märkte?Die starke wirtschaftliche Abschwächung in der Folge der Covid-19-Krise und die sich daraus ergebende beträchtliche ungenutzte wirtschaftliche Kapazität bedeutet, dass Zentralbanken wahrscheinlich nicht mit der gleichen Dringlichkeit auf die Verbesserung der Makrodaten reagieren werden, wie das in einem normalen Zyklus der Fall wäre. Die entspanntere Einstellung der Fed zur Inflation ist ein Ausdruck davon. Das kann dazu führen, dass der Anleihemarkt weniger stark auf die wirtschaftliche Verbesserung reagieren wird, als es sonst der Fall wäre. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dies den fundamentalen Zusammenhang zwischen besseren Makrodaten und höheren Realzinsen eliminiert. Welche Implikationen dürfte denn eine Verschiebung der Fed-Käufe in Treasuries mit längeren Laufzeiten haben?Aus unserer Sicht hält sich der Einfluss auf die Renditen in Grenzen. Die Renditeentwicklung von US-Staatsanleihen mit zehnjähriger Laufzeit zeigt einmal mehr den starken Einfluss von Makrodaten auf die Märkte: Wann immer die globalen PMIs in den vergangenen 20 Jahren über sechs Monate um mehr als drei Punkte gestiegen sind, haben die US-Bondrenditen um 100 Basispunkte zugelegt. Im aktuellen Umfeld haben die Anleiherenditen bisher noch nicht reagiert – das sollten sie aber bald nachholen. Wie wird sich das auf die Aktienmärkte auswirken?Wenn die Bondrenditen steigen, führt das typischerweise zu einer Outperformance der Value-Aktien. Wir erwarten in den nächsten drei bis vier Monaten eine Rotation von Growth- zurück zu Value-Aktien. Einige Werte, die während der Krise stark gesucht waren, haben bereits eine Underperformance begonnen und werden diese wahrscheinlich auch fortsetzen. Können Sie dafür ein Beispiel nennen?Beispielsweise die Pharma-Titel. In der Coronakrise waren diese extrem beliebt, weil die Anleger auf Impfstoffe und daraus resultierende ho-he Gewinnchancen gehofft haben. Seit Mai haben Werte aus der Branche aber eine Underperformance von 12 % gezeigt. Weitere Anstiege der PMIs und der Bondrenditen bedeuten historisch gesehen kurzfristig keine guten Nachrichten für Pharma-Werte. Was erwarten Sie für die Technologieaktien?Viel stärker als in anderen Sektoren folgt der Tech-Sektor seinem eigenen Zyklus. Wir nehmen deshalb keine gesonderte makrobasierte Analyse für Tech vor. Allerdings handelt es sich natürlich auch um einen wichtigen Growth-Sektor. Ein Großteil der erwarteten Gewinne liegt weit in der Zukunft. Zinsanstiege gereichen deshalb auch Tech sicher nicht zum Vorteil. Für welche Sektoren sehen Sie derzeit Potenzial am Aktienmarkt?Am meisten Luft nach oben haben unter anderem die Airline-Aktien, das ist aber auch der volatilste Sektor. Natürlich sind die Airlines stark von der Ölpreisentwicklung und der Reiseaktivität abhängig. Wir erwarten, dass Letztere im kommenden Jahr teilweise wieder anziehen wird. Die Airline-Aktien sind aber noch bepreist wie zum Höhepunkt der Krise. Ebenfalls noch kaum auf die verbesserte wirtschaftliche Situation reagiert haben die Energietitel, Banken und spanische Aktien. Worin liegen denn die größten Risiken für Ihre Annahmen?In einer erneuten Verschlechterung der Coronakrise und auch in der Brexit-Situation. Ein EU-Austritt Großbritanniens ohne Abkommen wäre sehr disruptiv und würde wichtige Faktoren in unserem Prognosemodell verändern. Das Zustandekommen eines Handelsabkommens ist die Basisannahme unserer Ökonomen. Die Zeit für eine Einigung wird aber zunehmend knapp. Sollte bis Jahresende kein Deal stehen, erwarten unsere Ökonomen, dass sich das Wirtschaftswachstum in der Eurozone im kommenden Jahr um 40 Basispunkte reduzieren würde. Zudem würde die politische Unsicherheit wieder steigen, wie das auch nach dem Brexit-Referendum 2016 der Fall war. Schwächeres Wachstum und steigende politische Unsicherheit würden unsere Stoxx-600-Erwartungen in einem No-Deal-Szenario um circa 5 Prozentpunkte senken. Das Interview führte Alex Wehnert.