„Die Fed hat den Autopilot in Richtung Exit eingeschaltet“
Kai Johannsen.
Herr Rieger, die Inflationsdiskussion bestimmt die Entwicklung auf den Zinsmärkten dies- und jenseits des Atlantiks. Welche Faktoren sprechen denn für einen länger anhaltenden Inflationsanstieg?
Der entscheidende Faktor ist, dass ein Überangebot an Geld einem begrenzten Angebot an Gütern und Dienstleistungen gegenübersteht. Dabei erscheint die Entschlossenheit der EZB fraglich, Inflationsrisiken zu begegnen. Hinzu kommen strukturelle Faktoren, die längerfristig für eine höhere Inflation sprechen. Die drei wichtigsten Punkte sind hier die Deglobalisierung, die Kosten des Klimawandels und die Demografie.
Und welche Faktoren sprechen denn eher für einen vorübergehenden Inflationsanstieg?
Inflation wird stets als jährliche Veränderung des Preisniveaus gemessen. Nach dem deutlichen Inflationsschub in diesem Jahr liegt das allgemeine Preisniveau über dem Trend, der seit 2009 bis zur Coronakrise zu beobachten war, vor allem in den USA. Die Aufholeffekte nach dem Nachfrageeinbruch im vergangenen Jahr und damit zusammenhängende Probleme bei den Lieferketten sind in erster Linie für den starken Anstieg verantwortlich. Es ist zwar schwer abzuschätzen, wie lange diese Verwerfungen noch andauern werden. Nach ihrem Auslaufen erscheint es jedenfalls plausibel, dass der Preisanstieg sich normalisiert oder es in einigen Bereichen sogar zu einer Gegenbewegung kommen wird. Von daher sprechen diese Basiseffekte sowie andere Sondereffekte im Zusammenhang mit der Pandemie oder die Mehrwertsteuererhöhung für einen vorübergehenden Preisschub. Entscheidend dafür, dass sich die Dynamik nicht verstetigt, wird sein, dass es zu keinen Zweitrundeneffekten bei den Lohnsteigerungen kommt. Dafür gibt es momentan insbesondere in der Eurozone jedoch wenig Anzeichen.
Wie ist Ihre persönliche Meinung: temporäre oder vorübergehende Inflationsanstiege?
Der Inflationsanstieg dürfte durch die größeren Probleme bei den Lieferketten und den stärkeren Anstieg der Energiepreise etwas länger andauern. Damit dürften wir auch Anfang nächsten Jahres in der Eurozone noch eine Zwei vor dem Komma bei der Inflation haben. In den USA vermutlich sogar eine Fünf. Im Jahresverlauf dürften die Teuerungsraten dann aber deutlich zurückgehen, in der Euro-Kernrate im zweiten Halbjahr wieder deutlich unter 2%. Längerfristig ist aufgrund der genannten strukturellen Faktoren dann jedoch wieder mit höheren Inflationsraten zu rechnen.
Mit welchen Reaktionen der US-Notenbank Fed rechnen Sie in den kommenden Monaten?
Die Fed hat den Autopilot in Richtung Exit eingeschaltet. Das bedeutet, dass im November ein Tapering, d.h. eine Reduzierung der Anleihekäufe, beschlossen werden sollte, sofern nicht irgendetwas völlig schiefgeht.
Wo sehen Sie den US-Leitzins Ende dieses Jahres und zur Jahresmitte 2022?
Unverändert, d.h. nahe null. Angesichts der rückläufigen Teuerungsrate und des ausgegebenen Ziels, Vollbeschäftigung für alle Bevölkerungsgruppen zu erreichen, rechnen wir erst Mitte 2023 mit einer ersten Zinsanhebung, d.h. später als der Markt.
Wie sind Ihre Prognosen für die zehnjährige US-Treasury-Rendite per Ende 2021 und Mitte 2022?
Wir prognostizieren 1,6% zum Jahresende und 1,4% zum Ende des zweiten Quartals 2022. Das klingt zunächst wenig spektakulär. Angesichts der volatileren Inflationsraten und des Fed-Taperings sind zwischenzeitlich größere Ausschläge nicht unwahrscheinlich.
Kommen wir zur EZB: Rechnen Sie damit, dass die EZB auf absehbare Zeit ihre Haltung aufgibt und zinspolitisch gegensteuern muss?
Nein, das halte ich für sehr unwahrscheinlich. Selbst wenn die Inflation noch länger über dem EZB-Ziel verharren sollte, dürfte die EZB genügend Argumente finden, wieso dies auf temporäre Faktoren zurückzuführen ist und die Inflation in den nächsten ein bis zwei Jahren wieder fallen sollte. In ihrer Strategieüberprüfung diesen Sommer hat die EZB die Latte für eine Zinswende sehr hoch gelegt. Das bedeutet, dass wir noch einige Jahre mit negativen Leitzinsen leben müssen.
Könnte PEPP und damit das QE der EZB uns noch länger erhalten bleiben, und was müsste dafür eintreten?
Ich denke hier muss man zwischen dem PEPP und dem regulären Ankaufprogramm, dem APP, unterscheiden. Für eine Verlängerung des PEPP über März 2022 hinaus müsste eine pandemische Notsituation festgestellt werden. Auch wenn damit zu rechnen ist, dass die Neuinfektionen diesen Winter wieder zunehmen, dürfte das kaum eine Verlängerung des PEPP rechtfertigen. Wir gehen zwar davon aus, dass das Ende März unter dem PEPP-Gesamtumfang verbleibende Volumen von ca. 50 Mrd. Euro im zweiten Quartal noch aufgebraucht werden wird. Eine Verlängerung darüber hinaus oder eine Erhöhung des Gesamtumfangs erscheint ohne neue Lockdowns jedoch schwer vermittelbar. Anders dürfte die Argumentation beim regulären QE-Programm, dem APP, aussehen. Hier gibt es ohnehin kein anvisiertes Enddatum. Das aktuelle Ankaufvolumen von 20 Mrd. Euro pro Monat könnte im Frühjahr durch ein flexibles Volumen ersetzt werden, das vierteljährlich überprüft wird. Durch die Betonung, dass man Klippeneffekte vermeiden will, würde dem Markt bereits im Dezember klar signalisiert, dass man bereit ist, das APP aufzustocken. Die Notwendigkeit für ein neues Nachfolgeprogramm, das PEPP und APP ersetzt und auf den Kapitalschlüssel verzichtet, wie in Medien spekuliert wird, sehe ich nicht.
Rechnen Sie mit einer Wachstumsbeschleunigung im Euroraum?
Nein, im Gegenteil. Nach einem ordentlichen dritten Quartal rechnen wir mit einer deutlichen Abschwächung der Wachstumsdynamik im Winterhalbjahr. Neben den Lieferengpässen und wieder steigenden Infektionszahlen dürfte dann vor allem auch China Bremsspuren hinterlassen. Die von der EZB in ihren jüngsten Projektionen unterstellten Wachstumsraten sehen vor diesem Hintergrund recht optimistisch aus, vor allem für das vierte Quartal. Eine etwas schwächere Dynamik würde somit den Tauben im EZB-Rat Argumente bieten, um bei den wichtigen Entscheidungen im Dezember expansivere Maßnahmen durchzusetzen.
Welche Möglichkeiten bestehen dann für die EZB außer QE noch?
Neben länger andauernden Anleihekäufen dürfte die EZB weiter auf günstige langfristige Refinanzierungsgeschäfte, d.h. TLTROs, und Forward Guidance setzen. Bei den TLTROs rechne ich fest mit einer neuen Serie dreijähriger Geschäfte. Die genaue Ausgestaltung dürfte im EZB-Rat ebenso kontrovers diskutiert werden wie die Anleihekäufe. So ist es etwa umstritten, ob weiterhin ein Sonderzins von bis zu –1% gewährt werden soll. Als Teil eines Kompromisses kann ich mir gut vorstellen, dass auch der Staffelzinsmultiplikator erhöht wird.
Wie sehen Ihre Prognosen für die zehnjährige Bundrendite für Ende 2021 und Mitte 2022 aus?
Zum Ende des Jahres rechnen wir mit –0,2%, Mitte nächsten Jahres mit –0,3%.
Könnte das verstärkte Zugreifen von Real Money Accounts jeglichen Renditeanstieg im Bereich der Bundesanleihen nicht wieder zunichte machen?
Trotz der tief negativen Renditen gibt es nach wie vor eine ordentliche Nachfrage nach Bundesanleihen. Neben ausländischen Zentralbanken und inländischen Marktteilnehmern, die aus regulatorischen Gründen staatliche deutsche Papiere kaufen, gibt es nach wie vor Vermögensverwalter, die vor allem sehr langlaufende Papiere als Absicherung gegen Finanzmarktturbulenzen in ihren Portfolien beimischen.
Ist das Niedrigrenditeumfeld für Sie somit in den kommenden zwei bis drei Jahren intakt?
Der Tiefpunkt bei den globalen Anleiherenditen liegt zwar vermutlich hinter uns, doch ein nachhaltiger Anstieg auf höhere Renditeniveaus dürfte noch in weiter Ferne liegen. Niemand kann mit Sicherheit vorhersagen, wie sich die Inflation in zwei bis drei Jahren entwickeln wird. Angesichts der Schuldenexplosion im Zusammenhang mit der Pandemie wird jedoch vor allem die EZB länger darauf aus sein, den Anstieg bei den Nominalrenditen zu begrenzen. Bei steigenden Inflationserwartungen würde das für eine noch längere Zeit sehr negative Realrenditen bedeuten.
Das Interview führte