GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (97)

Die Globalisierung hat ihren Zenit überschritten

Börsen-Zeitung, 30.11.2019 Die Globalisierung hat die letzten Jahrzehnte geprägt, in Wirtschaft, Gesellschaft und auch an den Kapitalmärkten. Allerdings geht die aktuelle Welle der Globalisierung zu Ende, und daran wird auch eine Einigung im...

Die Globalisierung hat ihren Zenit überschritten

Die Globalisierung hat die letzten Jahrzehnte geprägt, in Wirtschaft, Gesellschaft und auch an den Kapitalmärkten. Allerdings geht die aktuelle Welle der Globalisierung zu Ende, und daran wird auch eine Einigung im Handelsstreit zwischen den USA und China nichts ändern. Ein Auslaufen der positiven Effekte der Globalisierung wird mittelfristig auch spürbare Konsequenzen für die Kapitalmärkte haben.Dies ist jedoch keine außergewöhnliche Entwicklung, denn seit Beginn der Menschheitsgeschichte sorgen Innovationen und politische Öffnung für ein schubweise engeres Zusammenrücken der Welt: Im 15. Jahrhundert war es etwa die Entwicklung von hochseetüchtigen Segelschiffen, im 19. Jahrhundert waren es die Entwicklung von Dampfschiffen aus Eisen sowie der Telekommunikation, die Reduktion von Zöllen in Europa und der Goldstandard, welche eine Globalisierungswelle auslösten. Doch über die Zeit kommt es stets zu Globalisierungsgewinnern und Globalisierungsverlierern. Dies mündet dann in Populismus, protektionistischer Politik und einem insbesondere bei schwacher Wirtschaftsentwicklung wieder zunehmenden Nationalfokus. Beispiele für solche Wendepunkte sind die Russische Revolution 1917 oder die Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg verhinderte u. a. der Kalte Krieg lange eine erneute starke Welle der Globalisierung, trotz technischer Fortschritte. Die Regionen entwickelten sich deshalb sehr unterschiedlich. Finanzkrisen begünstigtIn den neunziger Jahren startete die aktuelle Welle der Globalisierung, ausgelöst unter anderem durch den Zusammenbruch der Sowjetunion, die Ausweitung der EU und wirtschaftliche Reformen in China, Indien oder Lateinamerika. Die Zölle in den Industrieländern wurden mehr als halbiert. China und Indien traten der WTO bei. Vorher schwer zugängliche Ressourcen und Märkte wurden erschlossen. Ökonomisch betrachtet kam es zu einem Angebotsschock im Arbeitsmarkt mit dem Ergebnis einer Faktorpreisverschiebung zu Lasten der Arbeitskraft und zugunsten des Kapitals. Riesige Containerschiffe, fallende Kosten für Zug- und Lkw-Transporte sowie Fortschritte in der Kommunikation durch die Entwicklung des Internets befeuerten die Welle der Globalisierung zusätzlich. Von 1985 bis 2007 legte das Welthandelsvolumen doppelt so stark zu wie das globale Bruttosozialprodukt. Die zunehmende wirtschaftliche Integration führte zu stärkerem Wirtschaftswachstum, insbesondere in den Schwellenländern, geringerer Inflation und niedrigeren Zentralbankzinsen. Unternehmen steigerten ihre Profitabilität deutlich. Wirtschaftsfreundliche Reformen, um im zunehmend globalen Wettbewerb bestehen zu können, begünstigten die Unternehmen zusätzlich. Seit 1995 sind die Unternehmensgewinne in den Industrienationen jährlich um ca. 3 Prozentpunkte stärker gestiegen als das nominelle Bruttosozialprodukt. Das unterstützte die Preisentwicklung von Aktien, Anleihen und zumindest bis zur Finanzmarktkrise auch von Rohstoffen, denn die starke Investitionstätigkeit in den Schwellenländern sowie der Aufbau der dortigen Infrastruktur, insbesondere in China, waren sehr rohstoffintensiv. Die zunehmende ökonomische Integration begünstigt aber auch globale Finanzkrisen durch schnelle, grenzüberschreitende Ansteckung, wie die Finanzmarktkrise 2008/09 zeigte. Vertrauen gebrochenSeit der Finanzmarktkrise ist der Welthandel nur noch im Gleichlauf mit dem Bruttosozialprodukt gewachsen. Die Finanzmarktkrise hat vielfach das Vertrauen gebrochen, dass die freie Marktwirtschaft sozialverträgliche Entwicklungen liefert. Die breite Bevölkerung in vielen westlichen Ländern fühlte sich als der vermeintliche Verlierer der Globalisierung, während die Kapitaleigner über die Zeit stark von steigenden Vermögenspreisen und niedrigen Zinsen profitierten. Die Ungleichheit der Vermögens- und Einkommensverteilung in den Ländern nahm kontinuierlich zu. Dies bereitete den Nährboden für das Erstarken populistischer, protektionistischer Politiker und damit die Gefahr, dass die Integration von Wirtschaften und Märkten teilweise zurückgeschraubt wird. Beispiele sind die Erfolge populistischer Parteien in vielen Ländern Europas, die Brexit-Entscheidung oder der Handelskrieg zwischen den USA und China. Handelsprotektionistische Maßnahmen dominieren Liberalisierungsmaßnahmen bereits seit der Finanzmarktkrise, und das in zunehmendem Ausmaß. Migration aus ärmeren Ländern oder eine Wirtschaftskrise könnten die Stimmung gegen die Globalisierung weiter verschärfen. Handel weniger wichtigAuch sind die einfach realisierbaren Erträge der wirtschaftlichen Integration bereits geerntet. Die Mitgliedstaaten der WTO stehen für 93 % der Weltbevölkerung. Technologischer Fortschritt, insbesondere die Digitalisierung und Automatisierung, reduziert den Anteil der Arbeitskosten in der Produktion. Schrumpfende Arbeitskostendifferenzen zwischen Industrie- und Schwellenländern machen bei nicht mehr sinkenden Transport- und Kommunikationskosten lokale Produktion wieder attraktiver. Neue Technologien wie der 3-D-Druck erlauben einfachere lokale Produktion, und Konsumenten fragen aus ökologischen Gründen vermehrt lokale Produkte nach. Viele Unternehmen versuchen die Komplexität ihrer Lieferketten zu reduzieren und diese zu verkürzen. Globaler Handel wird also weniger wichtig.Zudem handelt es sich beim Handelsstreit zwischen den USA und China nur um den aktuellen Schauplatz einer neuen globalen geopolitischen Rivalität. Mit dem Erstarken von China geht es letztlich um die globale technologische und militärische Vorherrschaft sowie konkurrierende Gesellschaftsmodelle: liberale Demokratie versus autoritärer Überwachungsstaat. Auch ein “Phase 1 Deal” oder ein anderer amerikanischer Präsident wird dies nicht ändern. Deshalb ist zu erwarten, dass der globale Handel in den kommenden Jahren schwächer wachsen dürfte als die Wirtschaft. Dies ist 2019 bereits der Fall. Während die globale Wirtschaftsleistung weiterhin mit nominal rund 5 bis 6 % wächst, ist der globale Handel bereits rückläufig.Eine permanente Trennung zwischen einem US- und einem China-geführten Handelsblock mit einem eisernen Vorhang für Technologien würde das globale Wirtschaftswachstum merklich reduzieren. Bereits jetzt belastet die hohe Unsicherheit über die zukünftige Weltordnung und den Fortgang der Globalisierung die Investitionstätigkeit westlicher Unternehmen. Aufgebaute Wertschöpfungsketten der Unternehmen verlieren vor dem Hintergrund einer zunehmenden Deglobalisierung ihren Wert. Es drohen hohe Abschreibungen. Infolgedessen dürften die Wachstumsaussichten in den nächsten Jahren begrenzt sein. An den Kapitalmärkten ist in den kommenden zehn Jahren nicht mit vergleichbaren Erträgen wie in den letzten drei Dekaden zu rechnen, insbesondere nicht bei Anleihen. Auch dürften Aktien vom derzeitigen Niveau aufgrund einer Deglobalisierung geringere Renditen als im historischen Durchschnitt erzielen. Angesichts des derzeitig niedrigen Renditeniveaus bei Anleihen dürften sie sich allerdings besser als Anleihen entwickeln. Auch dürften zunehmend populistische westliche Regierungen vermehrt auf fiskalpolitische Wachstumsimpulse und Zollschranken setzen, was mittelfristig zu steigender Inflation und steigenden Zinsen führen könnte.Insbesondere Schwellenländer, die nicht bereits deutliche Fortschritte in der wirtschaftlichen Entwicklung gemacht haben und die über keinen großen heimischen Absatzmarkt verfügen, dürften unter einer Deglobalisierung leiden. Zum einen dürften sie weniger ausländische Investments anziehen, zum anderen schwinden ihre Absatzmärkte. Die aktuelle Globalisierungswelle läuft aus. Die Wohlstandsgewinne der letzten drei Dekaden werden sich so schnell nicht wiederholen lassen. Bernd Meyer, Chefanlagestratege und Leiter Multi Asset, Berenberg Bank Bisher erschienen: Vollständige Integration von ESG-Faktoren besserer Weg (96), Assenagon Asset Management New York City – auf dem Weg zur smarten Metropole (95), Pictet Asset Management Die Energiewende erreicht immer mehr Industriezweige (94), Metzler Capital Markets