IM INTERVIEW: ANDREAS HÜRKAMP, COMMERZBANK

"Die Kräfte des Bullenmarktes werden schwächer"

Stratege erwartet Übergang zum Bärenmarkt noch nicht in diesem Jahr - Geldpolitik stützt - Risiken gehen von Coronavirus und US-Wahlen aus

"Die Kräfte des Bullenmarktes werden schwächer"

Nach Einschätzung von Andreas Hürkamp steigt die Gefahr, dass der bereits fast elf Jahre alte Bullenmarkt in absehbarer Zeit sein Ende finden wird. Der Aktienstratege der Commerzbank verweist auf Warnsignale. Allerdings rechnet er für dieses Jahr noch nicht mit dem Übergang in einen Bärenmarkt, weil die Geldpolitik die Aktienmärkte noch stützt. Herr Hürkamp, wir haben einen bereits sehr alten Bullenmarkt. Wie hoch schätzen Sie das Risiko ein, dass sein Ende bald kommen könnte?Die Warnsignale für die Aktienmärkte haben zuletzt weiter zugenommen. Am 6. März wird der Bullenmarkt elf Jahre alt, und es gibt einige Gründe, vorsichtiger zu werden. So ist die amerikanische Zinskurve wieder invers geworden. Historisch war dies bislang eine notwendige Bedingung für das Auslaufen eines Bullenmarktes. Wir hatten bereits eine inverse Kurve, ehe die zehnjährige US-Rendite eine kurzfristige Bewegung Richtung 2 % einlegte und sich die Kurve vorübergehend wieder verbesserte. Jetzt geht von ihr aber erneut ein Warnsignal aus. Welche weiteren Warnsignale gibt es?Ein weiteres negatives Signal ist, dass die Aufwärtsbewegung des US-Aktienmarktes immer stärker von nur wenigen Werten getragen wird. Die fünf größten Werte des S&P 500 machen rund 20 % der Indexgewichtung aus, das heißt, es gibt eine Konzentration auf wenige Werte. Zuletzt gab es so etwas im Jahr 1999. Damals zählten Cisco, Exxon, General Electric, Walmart und wie heute Microsoft dazu. Die Marktbreite zeigt an, dass die Kräfte des Bullenmarktes schwächer werden. Außerdem ist der US-Aktienmarkt derzeit mit dem 30-Fachen des Durchschnitts der Gewinne der zurückliegenden zehn Jahre bewertet. In den zurückliegenden 140 Jahren befand sich dieses sogenannte Shiller-KGV nur zweimal auf einem Niveau über 30, und zwar 1929 und 2000, bevor die Aktienmärkte einbrachen. Wie könnte sich unter diesen Voraussetzungen das Coronavirus auswirken?Es könnte sein, dass Corona zum Sargnagel des Bullenmarktes wird. Um das System anzugreifen, bedarf es eines externen Schocks. Entwickelt sich Corona zu einer globalen Pandemie, wäre dieser Schock insbesondere für China mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im Jahr 2008 vergleichbar. Damals gab es in den USA eine hohe Verschuldung und ein schwaches monetäres Umfeld. In 2020 leidet nun China unter einer sehr hohen Verschuldung, und das Geldmengenwachstum Chinas ist auf niedrige Werte zwischen 0 und 5 % gefallen. Das Land braucht aber ein Geldmengenwachstum von mindestens 10 %. Es gibt aber noch ein weiteres potenzielles Risiko für den Bullenmarkt, nämlich ein Sieg des Demokraten Bernie Sanders bei den US-Präsidentschaftswahlen. Derzeit wird seine Kandidatur noch belächelt. Aber man hat auch die Kandidatur von Donald Trump sechs Monate vor seinem Wahlsieg nicht ernst genommen. Welche Probleme würde ein Sieg von Sanders mit sich bringen?Sanders hat eine gegen Aktieninvestments und Unternehmensgewinne gerichtete Agenda. Er tritt für höhere Unternehmensteuern ein sowie für die Einschränkung von Aktienrückkäufen. Derzeit sind die stetigen Rückkäufe der Unternehmen in den USA einer der wichtigsten Treiber der Aktienmärkte. Viele Anleger haben auf günstigere Gelegenheiten zum Einstieg gehofft. Wie sollen sie mit der aktuellen Lage nun umgehen?Die Zeiten, in denen man bei Schwäche kauft, um auf Sicht von zwei bis drei Jahren eine gute Rendite einzufahren, sind nach elf Jahre Bullenmarkt vorbei. Bei Schwäche kaufen ist nun vor allem für risikobereite Investoren unter kurzfristigen Trading-Gesichtspunkten angesagt. Kommt also demnächst der Übergang vom Bullen- zum Bärenmarkt?Wir gehen in diesem Jahr noch nicht in den Bärenmarkt. Entscheidend ist, dass die Fed im zurückliegenden Jahr dreimal ihren Leitzins gesenkt hat. Hätte sie das nicht gemacht, wären wir bereits im Bärenmarkt. Um einen Bullenmarkt zu beenden, ist neben der inversen Zinskurve eine weitere Voraussetzung, dass die Geldmenge nicht mehr wächst, das heißt, der US-Konsument darf nicht zusätzliches Geld im Portemonnaie haben. Das amerikanische M1-Geldmengenwachstum hat sich jedoch zuletzt dank der Leitzinssenkungen von 2 % auf 6 % erhöht, so dass der US-Konsument erst einmal robust bleibt. Aus diesem Grund ist es unserer Einschätzung nach noch zu früh, sich für einen Bärenmarkt zu rüsten. Wann könnte er beginnen?Ein potenzieller Auslöser könnte ein wieder Richtung 2 % sinkendes US-Geldmengenwachstum sein. Wir könnten uns vorstellen, dass das gegen Jahresende geschieht. Der monetäre Impuls der US-Notenbank würde auslaufen, und es wäre dann vorstellbar, dass der Bullenmarkt im Frühjahr 2021 endet. Und wenn Sanders vorher die Wahl gewinnt?Das Schreckgespenst eines Wahlsiegs von Sanders wird den Aktienmarkt zwischenzeitlich im Sommer 2020 beunruhigen. Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit, dass Trump in einem Umfeld noch stabiler Börsen und eines stabilen Konsums gewinnt, relativ hoch. In welchen Bahnen wird sich der Dax in diesem Jahr bewegen?Unser Jahresendziel von 13 700 wurde bereits im Januar erreicht. Wir erwarten nun starke Schwankungen auf den erreichten hohen Niveaus. Indexstände zwischen 11 800 und 12 400 Punkten wären Kaufniveaus bis Jahresende. Und in einem Bereich zwischen 13 600 und 14 000 geht dem Dax regelmäßig die Luft aus. Wie sehen Ihre Prognosen für die Gewinne der Dax-Unternehmen aus?Wir rechnen für dieses Jahr mit einem Anstieg der Gewinne um 2 bis 4 %. Unsere aktuelle Prognose für den Dax-Gewinn je Aktie für das Geschäftsjahr 2020 lautet 880 Punkte, der Markt geht von 920 Zählern aus. Allerdings basiert unsere Prognose noch auf der Annahme, dass das Coronavirus lokal in China eingedämmt werden kann, das heißt, vor dem Hintergrund der jüngsten Entwicklungen etwa in Europa steht die Prognose auf wackligen Beinen. Wahrscheinlich werden wir 2020 wieder ein Jahr ohne Gewinnwachstum der Dax-Unternehmen haben. Was erwartet Ihr Institut für das Wachstum der Weltwirtschaft?Derzeit lautet unsere Prognose für das globale Wachstum auf 3,0 %, aber ohne Pandemie. Auch hier ist nun die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass die Prognose reduziert werden muss. Geht die Schere zwischen der Entwicklung des Dax und der Unternehmensgewinne nicht zu weit auseinander?Die langfristige Entwicklung der Gewinne ist in der Tat sehr enttäuschend. Seit jener legendären Draghi-Rede im Jahr 2012 hat der Aktienmarkt jedes Jahr mit einer Konsensprognose für das Gewinnwachstum von 10 % gestartet. Im Durchschnitt betrug das jährliche Gewinnwachstum seither aber gerade einmal 1 %. Draghi hat den Markt stark gestützt, aber bei den Unternehmensgewinnen ist das nicht angekommen. Auch die Gewinne der Euro-Stoxx-50-Unternehmen liegen nur 8 % über ihrem Niveau des Jahres 2012. Das ist genau das, was uns der Bondmarkt mit einer zehnjährigen Bundesanleihen Rendite von minus 0,40 % sagen will: Wir haben eine Region, die kaum noch Trendwachstum aufweist. Was für KGVs sind für den Dax erreichbar. Wo wäre eine Obergrenze?Das Dax-KGV auf Basis der Konsensschätzung für die nächsten zwölf Monate liegt derzeit bei 13, was sich mit einem Zehnjahresdurchschnitt von 12 vergleicht. Es kommt allerdings auf die Details an. Gute Geschäftsmodelle, wie sie derzeit etwa Adidas, Linde und SAP aufweisen, sind mit KGVs von 20 bis 25 relativ teuer. Das Problem des Dax ist, dass er derzeit zu wenige überzeugende Geschäftsmodelle hat. So haben die Automobilwerte KGVs von 8 bis 10. Keiner weiß, wie es in fünf Jahren in der Branche aussehen wird. Hinzu kommen im Dax Zykliker wie Siemens, deren Gewinne sich im Jahresverlauf erholen können. Sie haben aber KGVs von 14, was für Zykliker recht ambitioniert ist. Wenn man auf die Details schaut, haben wir im Dax in Teilbereichen ein Bewertungsniveau, das durchaus Parallelen zum teuren S&P 500 aufweist. Erwarten Sie weitere Stützungsmaßnahmen der Notenbanken als Reaktion auf die Coronakrise?Die vom Coronavirus ausgehenden Wachstumsrisiken werden weitere expansive Maßnahmen der Notenbanken zur Folge haben. China hat zuletzt eine weitere Zinssenkung um 10 Basispunkte beschlossen, Hongkong jetzt zu einer Art “Helikoptergeld” gegriffen. Der Markt preist bereits zwei Leitzinssenkungen der amerikanischen Zentralbank ein, und die EZB wird eventuell ihren Einlagesatz nochmal um 10 Basispunkte reduzieren. Weitere expansive Maßnahmen der Notenbanken werden die Aktienmärkte stützen. Ideal wäre allerdings ein Bullenmarkt, der von steigenden Gewinnen getrieben wird und nicht von Notenbankmaßnahmen, zumal der Medikamentenkoffer der Zentralbanken immer ausgedünnter wird. Es bleiben ihnen immer weniger Möglichkeiten. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.