IM INTERVIEW: CHEN ZHAO

"Die Märkte erinnern mich an die 90er Jahre"

Der Co-Gründer und Chefstratege von Alpine Macro über die Aktienrally, den Ölpreis, unproblematische Schulden und den deutschen Boom

"Die Märkte erinnern mich an die 90er Jahre"

Chen Zhao sagt von sich, er habe es nicht mehr nötig, Geld zu verdienen. Der Finanzmarktexperte, der über 22 Jahre für BCA Research in Kanada und dann zwei Jahre für den zu Legg Mason gehörenden Investmentmanager Brandywine gearbeitet hat, gründete deshalb seine eigene Firma Alpine Macro. Er geht von einem weiteren Wirtschaftswachstum aus und einer deutlichen Blasenbildung an den Aktienmärkten. Aufgrund einer steigenden Nachfrage aus Indien dürfte zudem der Ölpreis steigen.- Herr Zhao, die Märkte sind hoch bewertet, die Notenbanken in den USA und Europa straffen ihre Geldpolitik kaum. Wohin führt das?Jeder kratzt sich am Kopf. Das Research an Wall Street geht von einer Korrektur aus, der Bullenmarkt ist am Ende. Denn die Zinsen werden steigen, und jedes Mal, wenn das passierte, ist eine Rezession ausgelöst worden und die Märkte korrigierten. Das ist die Mainstream-Sicht. Meine Sicht ist jedoch eine andere. Wenn wir auf nominales Wachstum achten, ist es jetzt nach einem Rückgang auf Rezessionsniveau in den USA und China wieder auf Erholungskurs. Vier von sieben Warnsignalen haben angeschlagen: Die Aktien-Bond-Ratio ist gesunken, das Gewinnwachstum in den USA ebenso, Risikoaufschläge im Unternehmenssektor sind hochgeschossen, und es gab einen Kollaps in den Rohstoffpreisen.- Danach sieht es jetzt nicht aus?Wir arbeiten uns aus einer nominalen Rezession heraus in eine Erholungsphase. Wir dürften einen Wirtschaftsboom sehen, getrieben durch drei Dinge. Die privaten Haushalte haben ihren Schuldenabbau beendet, die Schuldenquote im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt hat sich stabilisiert und dürfte wieder steigen.- Müsste man nicht auf reale Renditen statt auf nominale achten?Wir kommen erst aus der nominalen Rezession heraus, weil der Schuldenabbau im privaten Sektor beendet wurde und sich der Konsumsektor robust entwickeln dürfte. Die Finanzmärkte erinnern mich an die 90er Jahre. Die US-Wirtschaft erholte sich damals von einer Rezession, aber die Schwellenländer steckten in einer schwierigen Situation. Das war der Beginn des deflationären Trends, bedingt durch Schuldenabbau. Die US-Notenbank wollte damals stets die Zinsen erhöhen. Als sie es 1994 tat, brach der Anleihenmarkt ein. Dann die mexikanische Schuldenkrise, das dämpfte jegliches Zinserhöhungsbestreben der Fed. 1998 kam dann die russische Pleite und der Kollaps des Long Term Capital Fund – und die US-Notenbank musste ihre Geldpolitik umdrehen und die Zinsen sogar senken. Danach kam es zu einem Boom.- Was hat dies mit der Situation heute zu tun?Das ist vergleichbar. Die US-Notenbank ist den anderen Notenbanken in ihrer Geldpolitik weit voraus, erhöht die Zinsen und verkleinert die Bilanz. Doch jedes Mal, wenn die Fed darüber sprach, dass die US-Wirtschaft nun robust genug sei für eine Zinserhöhung, kam es zu einem Kursrutsch am Aktien- und Anleihenmarkt, wie beim ,Taper Tantrum` im Jahr 2013. Ende 2015 brachen aber die Rohstoffpreise ein, und es gab eine nominale Rezession. Fed-Chefin Janet Yellen erklärte, der langfristig angemessene Zinssatz liege bei 1,2 % bis 1,5 %, und nicht mehr bei 2,5 %. Dies ist nun der Beginn eines Reflation Trade. Der ist vom Timing her identisch mit demjenigen der 90er Jahre, und praktisch von den Umständen her vergleichbar mit den Umständen damals.- Es gibt also Ihrer Ansicht nach einen Reflation Trade?Ja, einen enormen.- Aber die Zinskurve hat sich in den vergangenen Wochen wieder deutlich verflacht.Das ist das Rätsel. Wenn Sie mir meine Geschichte abkaufen, ist es sehr einfach, Kapital zu investieren. Die Schwellenländer haben sogar nach dem Platzen der Dotcom-Blase eine anhaltende Outperformance hingelegt. Derzeit sind Schwellenländer-Währungen sehr günstig. Fast die ganze Welt ist bullish für den Dollar, ich bin aber negativ eingestellt. Das Wachstum im Rest der Welt außerhalb der USA wird zu einem schwächeren Dollar führen. Besonders in der Eurozone, aber auch in China und anderen Schwellenländern.- Was bedeutet das für die verschiedenen Assetklassen?In den Rohstoffen ist die Geschichte evident. Bei der Zinskurve sehen wir im US-Markt einen Einfluss der Geldpolitik der Europäischen Zentralbank. Die EZB hat zu wenig Anleihen im Primärmarkt, um ihr immer noch laufendes Kaufprogramm umsetzen zu können. Sie muss also im Sekundärmarkt kaufen, weshalb die europäischen Renditen so überraschend niedrig liegen. Dann gibt es einen Transmissionsmechanismus in die übrige Welt, weshalb die US-Zinskurve auch so flach ist, wie sie derzeit ist. EZB-Chef Draghi führt eine vergangene Schlacht gegen Deflation.- Inwiefern?In Realität achte ich auf die Eurozone. Allerdings nicht auf Deutschland, wo es überall boomt, im Inland wie im Exportgeschäft. Nein, ich achte auf Länder wie Italien. Die Stimmung der Unternehmer und Konsumenten geht dort gerade durch die Decke, das nominale Bruttoinlandprodukt beginnt anzuziehen. Ich glaube, dass Draghi in den nächsten drei bis vier Monaten aufwachen wird und feststellt, dass er sich gerade im größten Wirtschaftsboom in der Geschichte der Eurozone befindet und die EZB hinter der Kurve liegt.- Der wirtschaftliche Sachverständigenrat der Bundesregierung hat jüngst Sorgen vor einer möglichen Konjunkturüberhitzung geäußert. Das würde in dieses Bild hineinpassen.Genau.- Weshalb ist die Inflation dann so niedrig?Die Welt ist enorm produktiv. Es gibt einen positiven Produktivitätsschock: Die Ersparnisse der Konsumenten und der Produzenten gehen durch die Decke. Nur ist der Überschuss der Konsumenten nicht im Bruttoinlandsprodukt abgebildet. Auch wird nicht abgebildet, was etwa ein iPhone 7 im Vergleich zu einem iPhone 5 alles mehr kann. Die ganze Produktivitätsentwicklung wird unterschätzt. Woher kommt sonst ein zweistelliges Gewinnwachstum, wie wir es derzeit bei vielen Unternehmen beobachten?- Das ist die andere Seite der Medaille.Ja.Diese ist messbar, doch die andere Seite wird nicht beachtet, weshalb der Punkt, die Welt sei nicht so produktiv wie erwartet, völlig an der Realität vorbeigeht. Die Produktivität ist viel höher, als wir beide denken. Deswegen ist es so schwierig, dass Inflation entsteht. Ich will gar nicht mit dem Klischee des Einsatzes von künstlicher Intelligenz kommen. Aber schauen Sie nach China: Die Exportwirtschaft und ihr weltweiter Anteil ist in den vergangenen zwei bis drei Jahren weiter gestiegen, obwohl sich die chinesische Währung – der Yuan – aufgewertet hat. Dies ging nur mit Produktivitätsverbesserungen. So sind in den Unternehmen an der chinesischen Küste 1,6 Millionen Roboter im Einsatz. Wenn es nun 1,5 % Bruttoinlandswachstum gibt und 1 % Inflationsrate, sollte die Anleiherendite im Gleichgewicht um 2,5 % liegen, und nicht 0,4 %, wie derzeit.- Was sind die Konsequenzen für Aktienmärkte?Es wird günstige Finanzierungskosten und steigende Gewinne bedeuten. Die Aktienkurse werden weiter steigen und die Bewertungen werden so teuer, dass sie nicht mehr angemessen sind. Aber gleichzeitig wird ein riesiges Maß an Volatilität in den Markt kommen. Wir sind auf einer konvexen Kurve, und wenn die Zinsen anziehen werden, kommt es zu schweren Turbulenzen im Markt. Doch bis es dazu kommt, werden wir eine gewaltige Inflation in Vermögenswerten erleben.- Bezogen auf Europa heißt das?Der Bewertungsabschlag europäischer Aktien gegenüber US-Titeln von rund 30 % dürfte nahezu verschwinden, bevor es zu Verwerfungen kommt. Momentan ist die Bewertung in Europa durchaus vernünftig.- Was ist mit dem möglichen Risiko einer neuerlichen Krise der Eurozone? Führt dies nicht zu einem Bewertungsabschlag?Ich glaube, die Eurozone ist ziemlich sicher. Wir haben den gefährlichsten Punkt in der Eurozone hinter uns gelassen. Sobald die Wirtschaft wächst, sinkt der Druck. Aber natürlich lässt auch der Druck zu Reformen dadurch nach, leider.- Was ist Ihre Empfehlung für Investoren?Ich rate zu einer Rotation aus Large-Cap-Unternehmen in Small-Cap-Unternehmen. Und zu einer Verlagerung von Mitteln aus den USA in Schwellenländer. Auch sind Umschichtungen weg von ValueAktien in Wachstumsaktien angezeigt.- In welche Branchen sollten Gelder investiert werden?Ich bin zuversichtlich für alles, was im Bereich Rohstoffe und Grundstoffe ist. Und ich bin sehr bullish für Öl. Der Markt diskontiert derzeit eine anhaltend schwache Nachfrage. Die Vorräte sind aber gesunken. Auch die Produktion steigt nicht so stark. Die Schieferölproduktion in den USA hat ihren Höhepunkt bereits überschritten. Es ist nicht mehr so einfach, mehr Öl aus den unkonventionellen Quellen zu holen, und die Grenzkosten steigen. Die Wild Card liegt auf der Nachfrageseite. Sicher wird etwa der chinesische Automarkt sich in den nächsten fünfzehn Jahren in Richtung Elektromobilität bewegen.- Aber das hat noch keinen Einfluss auf den Ölmarkt?Bis dahin dürfte die Ölnachfrage eher steigen, auch weil noch zu wenig alternative Antriebsmöglichkeiten zur Verfügung stehen und das Mobilitätsbedürfnis steigt. Der größte unbekannte Faktor ist Indien. Die Summe an Öl, die pro Kopf verbraucht wird, ist vergleichbar mit China. Nur ist das Bruttoinland pro Kopf heute so hoch wie in China im Jahr 2001. Damals hat aber erst der Boom in China erst eingesetzt, der die Rohstoffe auf Rekordhochs getrieben hat. Wir wissen nicht, ob Indien die Entwicklung von China wiederholt, aber auf jeden Fall besteht hier die Möglichkeit, dass eine weitere starke Nachfrage nach Rohstoffen und Öl ins Spiel kommt. Zudem führt ein schwächerer Dollar automatisch zu steigenden Preisen von Rohstoffen aufgrund des Umrechnungseffekts.- Und was bedeutet dies für die europäische Geldpolitik? Zinserhöhungen werden ja erst für 2019 erwartet.Das wäre weit, weit entfernt vom notwendigen Pfad. Die Europäische Zentralbank wird die Zinsen erhöhen müssen, womöglich schon in den nächsten sechs Monaten. Ansonsten könnte aus dem Boom in Deutschland eine Überhitzung entstehen. Das wird den Euro stärken, und ist eine Belastung für Bundesanleihen.- Was wird die Fed machen?Sie wird die Zinsen stärker als erwartet erhöhen. Der Markt preist das nicht richtig ein.- Worauf setzen Sie im Anleihenmarkt?Mexiko, Brasilien, Indien bieten Staatsanleihen mit sehr hohen Renditen. Die Währungen sind zudem günstig. Davon lässt sich womöglich doppelt profitieren.- Aber es fehlt dadurch an finanzieller Disziplin, was Risiken birgt?Ich glaube, hier muss einmal etwas klargestellt werden. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Verschuldung und den Renditen. Japan, Singapur und China sind hoch verschuldet, mit einer Schuldenquote zwischen 200 % bis 350 %. Sie bezahlen fast keine Zinsen dafür. Andererseits haben wir Länder, die eine geringe Verschuldung haben, wie Mexiko und Brasilien, und die hohe Zinsen dafür zahlen. Was geht da vor sich, wo ist die Gerechtigkeit?- Also gibt es im Markt einen Anreiz, die Schulden zu erhöhen?Wer Schulden aufnimmt, wird nicht bestraft. 1995 hatte Japan eine Schuldenquote von 20 % – gemessen am Bruttoinlandprodukt – und 4 % Zinsen. Das ist ein hoffnungsloser Fall, hieß es damals. Die ganze Welt hat das falsch gesehen. Heute hat Japan eine Schuldenquote von 300 %, und die Zinsen liegen bei null. Es braucht einen Weckruf! Warum gibt es Verschuldung? Es gibt sie, weil Ersparnisse in Investitionen umgewandelt werden müssen. Wenn kein Geld ausgegeben wird, wird es auch wenig Investitionen geben. So sind umgekehrt alle Länder, die eine hohe Sparquote aufweisen und investieren, dazu prädestiniert, ihre Schuldenquote hochzutreiben. Singapur hat die höchste Schuldenquote weltweit – und das hat nichts zu bedeuten.—-Das Interview führte Dietegen Müller.