Eidgenossen brauchen Roche-Revival
Von Daniel Zulauf, Zürich
„Für Aktienanleger geht die Achterbahnfahrt auch in den kommenden Monaten weiter.“ Mit dieser Ansicht ist Anastassios Frangulidis, Chefstratege im Assetmanagement der Genfer Privatbank Pictet, nicht allein. Die pessimistische Ansage ist Konsens unter seinesgleichen – aus guten Gründen: Die meisten Ökonomen erwarteten im laufenden Jahr eine markante Verlangsamung des globalen Wirtschaftswachstums. Viele gehen davon aus, dass Europa von einer Rezession heimgesucht werden wird. Nicht wenige denken, dass auch die US-Wirtschaft den Rückwärtsgang einschalten wird. Und großmehrheitlich einig sind sich die Auguren auch in der Erwartung, dass die hohen Inflationsraten auf beiden Seiten des Atlantiks weitere Leitzinserhöhungen erforderlich machen werden. Dem fulminanten Start aller größeren Aktienbörsen ins neue Jahr schlägt deshalb allenthalben noch viel Misstrauen entgegen.
In solchen Phasen erhöhter Unsicherheit schlägt die Stunde der Schweizer Börse. So will es jedenfalls das Narrativ, das über Jahre hinweg auf der Grundlage des defensiven Branchenprofils des Schweizer Marktes entstehen konnte. Wie sicher die Six Swiss Exchange als Schutzhafen bei globaler Sturmgefahr aber tatsächlich ist, lässt sich gar nicht so leicht verifizieren. Jedenfalls wird die These vom defensiven Schweizer Markt mindestens in den vergangenen zwei Dekaden nicht auf Anhieb sichtbar, wenn man die Performance der Schweizer Börse mit dem MSCI-Weltindex vergleicht.
In den 22 Jahren seit dem Dotcom-Crash von 2001 zeigte der MSCI-Weltindex insgesamt siebenmal eine negative Jahresperformance. Nur in vier von diesen sieben Minusjahren brachte ein gewichteter Korb mit Schweizer Aktien eine, teilweise nur sehr knappe, Outperformance zustande. Gewiss, die Statistik verbessert sich zugunsten der Schweiz, wenn sie um die langfristige Abwertung des US-Dollar zum Schweizer Franken bereinigt wird. So hat der Greenback in dem genannten Beobachtungszeitraum mehr als 40% zur helvetischen Valuta eingebüßt.
Hohe Verluste
Doch der Nimbus vom wetterfesten Schweizer Aktienmarkt in Zeiten globaler Gefahr lässt sich auch mit Hilfe einer solchen statistischen Bereinigung um den Wechselkurseffekt nicht einwandfrei belegen. Und seit dem vergangenen Jahr ist die Beweisführung noch etwas schwieriger geworden. 2022 verlor der MSCI-Weltindex in Dollar gerechnet 17,7%. Der alle 220 Schweizer Aktien abbildende Swiss-Performance-Index büßte in der gleichen Zeit 16,5% ein (einschließlich Dividenden). Bereinigt um den Wechselkurs, der sich im vergangenen Jahr knapp zugunsten des Dollar entwickelte, kam der Schweizer Markt in einem miserablen Jahr somit nur eine Nasenlänge vor dem MSCI- Weltindex durchs Ziel.
„Das war eine Enttäuschung“, konstatiert Frangulidis und verweist auf den Gesundheitssektor der 2022 mit einer durchschnittlichen Aktienperformance von −7,3% die drittbeste Branche auf dem Weltaktienmarkt war – nur knapp hinter den Versorgern (−7%), aber natürlich weit hinter dem Rohstoffsektor (+28%). Auf dem vierten Platz im globalen Branchenvergleich standen 2022 die Aktien der Hersteller von Basiskonsumgütern mit einer Performance von −8,4%.
Vor diesem Hintergrund hätte die Schweizer Börse eine weit bessere Figur abgeben müssen, erklärt Frangulidis. Seine Enttäuschung hat einen berühmten Namen: Roche. Die Stimmrechtslosen Genussscheine des Pharmamultis haben im vergangenen Jahr ganze 23% an Wert verloren und damit mehr als dreimal schlechter abgeschnitten als die entsprechende Branche im MSCI-Weltindex.
Keine signifikante Erholung
In der ersten Jahreshälfte war der ungewöhnlich scharfe Kursrückgang (−15,5%) vielleicht noch mit der damals gerade in Gang gekommenen Zinswende begründbar. Die Beteiligungstitel von Firmen wie Roche, die sich durch hohe Gewinne von langfristig außergewöhnlicher Zuverlässigkeit auszeichnen, kommen in solchen Phasen typischerweise viel heftiger unter die Räder als zum Beispiel Aktien von konjunkturreagibleren Unternehmen. Obschon sich diese erste Phase der Neubewertung in der zweiten Jahreshälfte merklich abgeschwächt hat, zeigten die Roche-Titel keine signifikante Erholungstendenz. Dies hat bei vielen Beobachtern Befürchtungen geweckt, das Unternehmen könnte auch betrieblich etwas aus dem Tritt geraten sein.
Dafür gab es im vergangenen Jahr tatsächlich einige Anzeichen. Eine wichtige klinische Studie, in der der Konzern eine neuartige Immunzellentherapie zur Behandlung von kleinzelligem Lungenkrebs an Patienten getestet hat, zeigte im Frühjahr nicht die erhofften positiven Ergebnisse. Und in der zweiten Jahreshälfte musste Roche auch die Hoffnung begraben, einen Wirkstoff gegen degenerative Erscheinungen von Alzheimerpatienten gefunden zu haben.
Solche Vorgänge lassen die Schweizer Börse nicht schadlos zurück, zumal Roche immer noch einen Anteil von über 15% an der Gesamtkapitalisierung des Marktes hat. Dennoch oder gerade deshalb setzt Anastassios Frangulidis auf 2023 auf den Heimmarkt. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Roche-Titel noch einmal so stark fallen“, sagt er und verspricht sich in dem neuen Jahr eine überdurchschnittliche Performance der Schweizer Börse im internationalen Vergleich.
Historisch tiefe Bewertung
Mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von gut 16-mal auf den 2023 erwarteten Gewinnen weise der Schweizer Markt eine historisch tiefe Bewertung auf. Global liegt das KGV etwa beim Faktor 15. Die Prämie der Schweiz sei gerechtfertigt, meint Frangulidis und verweist auf die soliden Bilanzen, die guten Marktpositionen der meisten an der Six Swiss Exchange notierten Unternehmen. „Solange die Konjunktur in den USA nicht besser aussieht und die Wirtschaftsentwicklung in Europa schwierig bleibt, spricht alles für den Schweizer Markt“, glaubt der erfahrene Anlagestratege.
Aber was kann sich ein Investor von einer „überdurchschnittlichen“ Performance der Schweizer Börse konkret erhoffen? Frangulidis rechnet mit einer kleinen positiven Gesamtrendite – „mit einer schwarzen Null“, wie er selber sagt. Die Schweizer Börse ist im besten Fall ein sicherer Hafen, aber auch sie bleibt von Stürmen nicht verschont. Was sich nach den Erfahrungen von 2022 aber sicher sagen lässt: Ein Betriebsunterbruch bei einem der drei Schwergewichte Roche, Nestlé und Novartis, die zusammen rund 50% des Marktes repräsentieren, bekommt der Börse bei jeder Witterung schlecht.