GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (47)

Eine Epidemie Schwarzer Schwäne?

Börsen-Zeitung, 24.11.2018 Abrupte, scharfe Korrekturbewegungen, sogenannte "Flash Crashs", kommen immer häufiger vor. De facto gehören solche Ereignisse heute fast schon zu einem normalen Marktumfeld. Bis Ende Oktober gab es 2018 bereits 15 solcher...

Eine Epidemie Schwarzer Schwäne?

Abrupte, scharfe Korrekturbewegungen, sogenannte “Flash Crashs”, kommen immer häufiger vor. De facto gehören solche Ereignisse heute fast schon zu einem normalen Marktumfeld. Bis Ende Oktober gab es 2018 bereits 15 solcher sogenannten 4-Sigma-Tagesbewegungen in zwölf ausgewählten Anlagen (siehe Grafik). Das sind Tagesbewegungen, die absolut betrachtet mindestens 4-mal größer sind als die Standardabweichung der Tagesbewegungen der letzten hundert Tage. Solche Bewegungen sind statistisch betrachtet höchst unwahrscheinlich.Spätestens seit der Finanzkrise ist den Marktteilnehmern bewusst, dass solche “Schwarzen Schwäne” existieren. Tagesbewegungen beziehungsweise Renditen sind nicht normalverteilt, ihre Verteilungen weisen sogenannte “Fat Tails” auf, das heißt erhöhte Wahrscheinlichkeiten extremer Bewegungen. Allerdings scheint es, dass das, was im Umfeld der Finanzmarktkrise zu beobachten war, in den letzten Jahren immer mehr zur Normalität wurde – Schwarze Schwäne werden zur Epidemie. Und dafür gibt es Gründe.Die Struktur und das Verhalten der Kapitalmärkte haben sich in den vergangenen zehn Jahren wesentlich verändert. Steigende Liquiditätsanforderungen treffen auf eine deutlich verringerte Qualität der Liquidität. Anleger können nicht mehr darauf vertrauen, dass Liquidität grundsätzlich verfügbar ist. Im Gegenteil: Liquidität versiegt genau dann, wenn man sie am nötigsten braucht – wenn die Volatilität steigt. Das Ergebnis sind zunehmend scharfe Marktbewegungen, die im Verhältnis zum Auslöser der Bewegung übertrieben erscheinen, sofern überhaupt ein Auslöser auszumachen ist. Wie ist es dazu gekommen? Anleger zunehmend im RisikoEs sind zwei Entwicklungen, die hier aufeinander treffen. Zum einen haben Jahre niedriger Anleiherenditen und quantitativer Lockerung durch die Zentralbanken Spuren im Agieren der Anleger hinterlassen. Anleger nahmen bei der Jagd nach Rendite zunehmend Risiken in Kauf, um eine positive Rendite zu erzielen. Sie ersetzten Kassenbestände und Staatsanleihen durch Unternehmens-, Hochzins- und Schwellenländeranleihen, Aktien, Immobilien und Alternative Investments. Es kam zu einer allgemeinen Inflation der Vermögenspreise. Die durchschnittliche Duration von Multi-Asset-Portfolios sank, während die Aktien-, Kredit- und Liquiditätsrisiken zunahmen. Die Portfoliodiversifikation ging dadurch insgesamt zurück. Anleger haben sich damit meist auch aus liquideren in weniger liquide Anlageklassen begeben. Im Umfeld geringer Volatilität der letzten Jahre haben sie dabei die damit verbundenen Liquiditätsrisiken möglicherweise unterschätzt.Das Umfeld niedriger Renditen und niedriger Volatilitäten hat Anleger auch in Short-Volatilität-Positionen gelockt. Dabei setzten Anleger effektiv auf die Vereinnahmung einer “Versicherungsprämie” durch Verkauf von “Finanzmarktversicherungen”. Auch ist die Verbreitung von systematischen, volatilitätsabhängigen Allokationsstrategien (zum Beispiel Strategien mit Zielvolatilitäten oder Risikoparitätsstrategien) drastisch gestiegen. Deren Verhalten ähnelt dem von Short-Volatilität-Strategien. All diese Ansätze wirken mit ihrem pro-zyklischen Verhalten trendverstärkend. Springen Volatilitäten an, reduzieren die Strategien systematisch die Allokation in Risikoanlagen und umgekehrt. Die einseitige Positionierung der Anleger, auch in weniger liquiden Anlageklassen, die fehlende Diversifikation in Multi-Asset-Portfolios und die Zunahme trendverstärkender systematischer Anlagestrategien legt nahe, dass im Fall der Fälle besonders hohe Liquiditätsanforderungen existieren. Schon bei unveränderter Liquidität spricht dies für zunehmend starke Marktreaktionen. Die Situation wird dadurch verschärft, dass die Notenbanken sich sukzessive aus dem Kapitalmarkt zurückziehen.Zum anderen veränderte sich die Qualität der Liquidität an den Märkten. In bestimmten Anleihesegmenten haben die Zentralbanken einen großen Teil der Liquidität abgeschöpft und treten zukünftig nicht mehr als Käufer auf. Die wesentlichen Gründe veränderter Liquidität sind aber im Rückzug der klassischen Händler, dem Aufstieg elektronischer Handelsplattformen und der zunehmenden Verbreitung von börsengehandelten strukturierten Produkten (ETPs) zu suchen.Zunehmende Regulierung der Banken und die Verfügbarkeit extrem schneller Computer führt dazu, dass sich die klassischen Händler vermehrt zurückziehen. Steigende Eigenkapitalanforderungen an die Banken bedeuteten, dass das Risiko, welches Händler nehmen können, stark zurückging. Ihre Profitabilität litt zudem unter der jahrelang geringen Volatilität der Märkte, den geringen Anleiherenditen, zunehmender Transparenz und zunehmendem Wettbewerb durch den technologischen Fortschritt. Die Lücke schließen teilweise elektronische Handelsplattformen. In normalen Zeiten sind Maschinen die besseren Händler als Menschen und die Liquidität ist gut. Das muss in Phasen von Stress aber nicht der Fall sein.Der Aufstieg der Maschinen hat aber noch eine andere Gruppe von Marktteilnehmern entstehen lassen: computerbasiert arbeitende Hochfrequenz-Händler (HFTs; High Frequency Trader). Innerhalb von Mikro- oder Millisekunden stellen und löschen deren Systeme zahlreiche Aufträge auf Basis von Algorithmen. Diese Marktteilnehmer verbessern die Liquidität unter normalen Marktbedingungen. In turbulenten Zeiten verschiebt sich deren Fokus aber vom “Market Making” auf marktfolgende Strategien. Damit fallen sie nicht nur als Liquiditätsanbieter aus, sondern werden selbst zum Liquiditätsnachfrager. Die Anzahl von ETPs und vor allem der ETFs (Exchange Traded Funds) und das von ihnen verwaltete Vermögen hat sich seit 2003 global mehr als verzwanzigfacht. Normalerweise erhöhen diese Produkte die Liquidität, insbesondere bei eigentlich illiquiden Anlagen. Dies gilt jedoch nur im “normalen” Marktumfeld, in dem ETF-Market-Maker als Intermediäre zwischen ETF-Käufern und -Verkäufern auftreten. Transaktionen im abgebildeten Markt (zum Beispiel in einem Rohstoff) finden nur bei Neuauflage von ETF-Anteilen durch den Emittenten oder Rückgabe von ETF-Anteilen an den Emittenten statt. Fällt aber eine der beiden Seiten größtenteils aus, was im Risikofall meist die Käufer sind, bleibt den Händlern nichts anderes übrig, als die ETF-Anteile im großen Stil dem Emittenten zurückzugeben. Dieser muss dann die entsprechenden Anlagen (zum Beispiel den Rohstoff) im zugrundeliegenden Markt abbauen. Damit reduziert sich im Fall der Fälle auch bei ETFs die Liquidität auf die des zugrundeliegenden Marktes. Portfoliocheck angezeigtDarum sollten Anleger ihre Portfolios überprüfen und sich eher frühzeitig von weniger liquiden Investments wie beispielsweise Hochzinsanleihen trennen, um bei einer schnellen Ausweitung der Risikoaufschläge nicht in eine Liquiditätsfalle zu geraten. Sobald die Anleiherenditen sicherer Häfen eine gewisse Kompensation für die Übernahme des Zinsänderungsrisikos bieten, sollte in Multi-Asset-Portfolios die Duration solcher Anleihepositionen verlängert werden, um die Diversifikation innerhalb dieser Portfolios wieder deutlich zu erhöhen. Für Anleger, die nicht systematisch agieren, können starke Marktbewegungen aber auch immer Opportunitäten bieten.—-Bernd Meyer, Chefstratege Wealth and Asset Management, Berenberg