TECHNISCHE ANALYSE

Entscheidung an der Wall Street

Von Stephen Schneider *) Börsen-Zeitung, 30.10.2019 Noch vor einigen Jahren folgten Europas Indizes stets der US-Börse. Dieser Einfluss - auch auf den Dax - hat offensichtlich etwas nachgelassen, vernachlässigt werden sollte er aber nicht. Insofern...

Entscheidung an der Wall Street

Von Stephen Schneider *)Noch vor einigen Jahren folgten Europas Indizes stets der US-Börse. Dieser Einfluss – auch auf den Dax – hat offensichtlich etwas nachgelassen, vernachlässigt werden sollte er aber nicht. Insofern gilt es, einen Blick auf die Wall Street zu werfen. Dabei ist ein S&P 500 erkennbar, der mit der letzten Sitzung sein bis dahin gültiges Allzeithoch übertroffen hat. Die Bullen halten das Heft damit weiter in der Hand. Bereits vor zwei Wochen deutete sich ein kurzfristiger Anstieg an, als ein “Gap” im Kursverlauf des S&P 500 gerissen wurde. Üblicherweise besitzen diese Kurslücken eine kurzfristige “Anziehungskraft” und oft fallen die Kurse zunächst, um dann wieder in die Gegenrichtung und in diesem Fall damit nach oben zu drehen. Im aktuellen Fall wurde das entsprechende Gap allerdings nicht wie üblich “geschlossen”. Der übergeordnete Nachfrageüberschuss hat einen Rücksetzer verhindert und lässt damit weiteres Kurspotenzial ableiten. Kein signifikanter AusbruchDemgegenüber stand bzw. steht der bisherige Rekord bei 3 028 Punkten, der bislang nur marginal und damit nicht signifikant überwunden werden konnte. Der Widerstand bleibt damit aktiv, und die Optimisten sollten nun nachlegen, um seinem Einfluss zu entgehen. Ein Rücksetzer käme derzeit jedoch zur Unzeit, würde er den Widerstandsbereich doch nochmals bestätigen. Gelingt jedoch der deutliche Ausbruch, sehen wir momentan weiteres Anschlusspotenzial. Auch die Indikatoren im Tageschart haben wieder nach oben gedreht und deuten damit ebenfalls kurzfristiges Potenzial an. Unter zyklischen Aspekten lassen sie steigende Kurse bis zum Ende der zweiten Novemberwoche erwarten, dann aber sollte eine Neueinschätzung erfolgen. Bei einem vorherigen Rücksetzer des Index würden sie dagegen negative Divergenzen anzeigen, die sich – ebenfalls negativ – auf den Index auswirken dürften. Diesen Strukturen folgt in der Regel eine (erste) Korrektur in einer Größenordnung von etwa 7 %, wie sich aus vergleichbaren Konstellationen der Vergangenheit ableiten lässt. An sich ein unproblematisches und geringes Abwärtspotenzial, das nur das “normale Atmen” des Marktes repräsentiert. In der aktuellen Konstellation mit der neu entfachten Euphorie könnten die Optimisten aber in einen Konter der Bären laufen, der sich dann auch im übergeordneten Bild auswirken dürfte.Das bislang beschriebene kurzfristige Geschehen dürfte also einen gewichtigen Einfluss auf das mittel-, eventuell sogar das langfristige Szenario haben. Neben der Frage, ob der US-Index anziehen kann, wird wichtig werden, wie weit er bis Mitte November zulegen kann. Zeigt der S&P 500 dabei deutliche Gewinne bis knapp 3 300 Zähler, führt ihn die anschließende erwartete Korrektur vermutlich bis auf das aktuelle Ausbruchsniveau zurück. Dann würden die üblichen Gesetze der klassischen Charttechnik greifen, nach denen ein ehemaliger Widerstand als neue massive Unterstützung fungiert. Im langfristigen Chart finden sich aber genügend Hinweise, die uns an dieser Entwicklung zweifeln lassen und für eine Bullenfalle sprechen.Dabei wollen wir zunächst auf die Möglichkeit einer negativen “Verbreiterungsformation” aufmerksam machen. Da sie sich nun über mehrere Monate erstreckt und damit mittel- bis langfristigen Charakter besitzt, dürfte sie – bei Vollendung – den Abschluss eines ebenfalls langfristigen Trends einleiten. In diesem Zusammenhang fällt sofort der Mega-Trend auf, der 2009 startete. Dieser zeigt überdies ein fünfteiliges Muster, das nach den Regeln der Elliott-Wellen-Theorie ebenfalls für ein baldiges Ende der Tendenz spricht.Diese Strukturen allein reichen jedoch nicht für ein negatives Szenario aus. Hinzu kommen Hinweise der Fibonacci-Retracements bzw. von deren Projektionen. Diese Relationen spielen im alltäglichen Leben eine wichtige Rolle. Der “goldene Schnitt” oder “vitruvianische Mensch” von Leonardo da Vinci seien hier als Stichworte genannt. Auch Kursbewegungen folgen oft den Gesetzen dieser Relationen, und Ziele lassen sich u. a. durch die 161,8- prozentige oder 261,8 .prozentige Gegenbewegung aus vorangegangenen Korrekturen berechnen. Wie im Chart erkennbar, stellte die 161,8 -prozentige Bewegung 2015 in der Tat eine massive Hürde dar. Nun aber rangiert der S&P 500 nur noch marginal unter der darüber abgetragenen Widerstandsmarke (261,8 %) aus dem Rücksetzer vom Herbst 2007 bis Frühjahr 2009.Ein weiteres Argument, das zur Vorsicht mahnt, ist der Vergleich zwischen dem Dow und dem Transportation-Index. Nach der Theorie des Konstrukteurs der Indizes, Charles Dow, müssen sich beide im Rahmen einer “gesunden” Bewegung bestätigen. In den entsprechenden Charts zeigen sich aber Divergenzen, denn während der Dow eine steigende Tendenz zeigt, bietet der Transportwerte-Index nachgebende zyklische Extremwerte. In der Vergangenheit waren solche Divergenzen oft Vorboten einer übergeordneten Konsolidierung.In der Summe sprechen die Hinweise für eine prekäre Konstellation, in der sich der US-Aktienmarkt innerhalb seines Mega-Trends und über seinen Einfluss auch die europäischen Börsen befinden. Hier dürfte zeitnah eine Entscheidung über die weitere langfristige Tendenz anstehen. Wir befürchten, diese wird negativ ausfallen. Der Weg für weitere Gewinne wäre allerdings frei, sollten die nun anstehenden Hürden wider Erwarten signifikant überwunden werden. *) Stephen Schneider ist technischer Analyst bei der DZ Bank.