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Erste Anzeichen eines Wandels in Japan

Börsen-Zeitung, 21.6.2018 Die Entwicklung in Japan zu verstehen, scheint bisweilen wie die Suche nach der Lösung eines mathematischen Problems. Doch kann man an diese Aufgabe wirklich herangehen wie an eine Differenzialgleichung? Ganz so einfach ist...

Erste Anzeichen eines Wandels in Japan

Die Entwicklung in Japan zu verstehen, scheint bisweilen wie die Suche nach der Lösung eines mathematischen Problems. Doch kann man an diese Aufgabe wirklich herangehen wie an eine Differenzialgleichung? Ganz so einfach ist es nicht. Wie auch in vielen Bereichen der Mathematik gilt: Man muss sich einfach lang genug damit befassen. Was einen guten Mathematiker bzw. einen guten Unternehmer auszeichnet, ist nicht nur die jahrelange Erfahrung, sondern vor allem die intensive Beschäftigung mit ihrem Fachgebiet oder ihrer Branche. Man muss mit Leidenschaft und Geduld bei der Sache sein. Ob Innovation, modernste Technologien, Robotik, Kunst oder Gastronomie – Japan glänzt in vielen Bereichen und ist allenthalben ein Garant für Modernisierung. Dies ist allerdings nicht neu und könnte auch als Beschreibung für das Japan der 1990er Jahre dienen. Hat sich das Land seitdem verändert oder ist es zu Deflation verdammt? Und welche Veränderungen kommen auf Anleger in japanische Aktien zu?Der 2012 gewählte Premierminister Shinzo Abe führte Japan in dieses neue Entwicklungsstadium. Das – übrigens sehr konservative – Land wurde in den letzten 150 Jahren von drei großen Modernisierungswellen heimgesucht. Die Meiji-Restauration läutete 1868 die Industrialisierung in Japan ein. Hatte sich Japan bis dahin gegenüber dem Rest der Welt abgeschottet, öffnete sich das Land fortan zunehmend. 1945 löste sich aller Fortschritt, den Japan seit 1868 erzielt hatte, in dem verwüsteten Land in Schutt und Asche auf. Was blieb, waren das Know-how und die Anpackermentalität in der Gesellschaft, die das Land bis 1990 wieder in die oberste Riege der Industrienationen führten. Die zwei darauffolgenden Jahrzehnte waren nicht nur von einer Immobilienblase gekennzeichnet, die schließlich platzte, sondern vor allem von der einsetzenden strukturellen Deflation. Letztere dauerte an, bis Abe und Kuroda die Geschicke des Landes in die Hand nahmen und eine extrem flexible Geldpolitik eingeführt wurde, die auf Reformen und Konjunkturmaßnahmen basierte. Um zu überleben, musste Japan strukturelle Änderungen vollziehen – und tat dies mit großem Erfolg. Rückkehr zu WachstumDie Ergebnisse dieses Politikwechsels treten bei längerfristiger Betrachtung zutage: Rückkehr zu Wachstum, wie das seit nunmehr fast fünf Jahren positive BIP zeigt, und Inflation. Dies spiegelt sich auch in den Erwartungen der Verbraucher wider, die von den Änderungen am stärksten betroffen sind. Der Anstieg der festen und variablen Vergütung verstärkte den Effekt, wie auch der Arbeitskräftemangel in wichtigen Sektoren wie Dienstleistung, Gesundheit und Baugewerbe. All diese Faktoren erklären die Entwicklung des japanischen Aktienmarktes, der seit 31. Dezember 2012 auf Yen-Basis ein Plus von 130 % verzeichnen konnte.Abgesehen von den Verschiebungen in der Lohn- und Preisdynamik profitiert Japan auch von der allgemeinen Konjunkturbelebung in den großen Volkswirtschaften. Allerdings muss man sich fragen, ob es sich lediglich um punktuelle zyklische Faktoren handelt oder sich in der Wahrnehmung des japanischen Verbrauchers sowie nationaler und internationaler Anleger tatsächlich ein struktureller Wandel vollzieht. Verstellen die in Presse und Wirtschaft viel zitierten zarten Pflänzchen einer Konjunkturerholung womöglich den Blick auf das große Ganze? Die grundlegendsten Änderungen betreffen die Bereiche Corporate Governance, Zuwanderung und Erwerbsbeteiligung von Frauen. Doch ist dieser Wandel nicht aus einer reinen Notwendigkeit heraus entstanden? Mit der Öffnung des Arbeitsmarktes für Frauen und ausländische Arbeitnehmer hat Japan eine in kultureller und sozialer Hinsicht radikale Antwort auf eine demografische Notwendigkeit gefunden. Notwendig waren die Änderungen auch für Pensionsfonds, die in inländische Aktien investieren, um ihre finanziellen Verpflichtungen zu optimieren und erfüllen zu können. Dass die größten privaten und öffentlichen Pensionsfonds ihr Engagement in inländischen Aktien verstärkt haben, ist allein dem Umstand zu verdanken, dass ein Wandel in der Einstellung der Unternehmen zu Minderheitsaktionären in Aussicht gestellt wurde. Höhere Dividenden, mehr Aktienrückkäufe, bessere Eigenkapitalrenditen und die Entwicklung von auf diesen Kriterien basierenden Indizes zeugen unter anderem von den tiefgreifenden Veränderungen, die sich im Verhältnis zwischen den Aktionären und den Unternehmen vollzogen haben. Blieben japanische Aktien in der Vergangenheit wegen der Dominanz der Konglomerate und des Mangels an Transparenz hinter der Wertentwicklung der globalen Aktienmärkte zurück, fügt sich das neue Japan mit seiner veränderten Praxis nun besser in unsere Allokationsstrategie ein. —-Cedric Le Berre, Investment Specialist, Japanese Equities and Emerging Markets, Union Bancaire Privée