„Es hat einiges auf den Kopf gestellt“
Kai Johannsen.
Herr Rieger, was ging Ihnen durch den Kopf, als die Zinsen erstmals negativ wurden?
Es hat einiges auf den Kopf gestellt. Eine Frage etwa, die ich gerne in Vorstellungsgesprächen für Positionen im Anleiheresearch gestellt habe, lautete: Wie hoch kann der Bund-Future steigen? Ich war dann stets zufrieden, wenn ein Bewerber 160 als theoretische Obergrenze herleiten konnte. Dieser Wert ergibt sich, wenn man den Zahlungsstrom der zugrundeliegenden fiktiven Bundesanleihe mit 6-Prozent-Kupon und zehn Jahren Laufzeit mit 0% abdiskontiert, also 6 mal 10 plus 100. Durch die negativen Zinsen, die vor zehn Jahren zum ersten Mal aufkamen, musste diese Überlegung sowie viele andere Annahmen überdacht werden. Der positive Zins als Ausdruck dessen, dass gegenwärtiger Konsum höher bewertet wird als zukünftiger Konsum, gilt nicht mehr.
Hätten Sie sich vorstellen können, dass das so lange anhält?
Die Negativzinsen waren zunächst eine Besonderheit am kurzen Ende der Bund-Kurve, die sich damit erklären lässt, dass institutionelle Investoren bereit sind, einen Preis zu bezahlen, um Mittel in unsicheren Zeiten ohne Risiken in die Zukunft transferieren zu können. „The return of capital is more important than the return on capital.“ Abgesehen von einigen notwendigen System-Upgrades, um Negativzinsen technisch darzustellen, waren wir zunächst damit beschäftigt, die effektive Zinsuntergrenze genauer zu berechnen, also etwa herauszufinden, wie viel Bargeld auf eine Europalette passt und wie hochgenau die Versicherungs-, Transport- und Verwahrkosten dafür sind. Allein die ökonomische Absurdität solcher Umgehungseffekte ließ uns nicht erwarten, dass wir über einen so langen Zeitraum und vor allem in dieser Breite an Instrumenten und Wertpapieren mit negativen Zinsen leben müssen. Selbst nach dem Zinsanstieg in diesem Jahr weist aktuell immer noch mehr als die Hälfte des ausstehenden Euro-Anleiheuniversums eine negative Rendite auf.
Was glauben Sie, wie lange werden wir noch mit negativen Zinsen leben (müssen)?
Negative Zinsen unterschiedlicher Couleur werden die Finanzmärkte wohl noch sehr lange begleiten. Entscheidend sollten letztendlich immer die Realzinsen sein, das heißt die Zinsen nach Abzug der Inflation. In einer Zeit, wo die Inflation gering war, fielen Negativzinsen nicht so sehr ins Gewicht. Bereits bei einer Geldentwertung von 2% hingegen ergibt sich bei aktuellen EZB-Sätzen ein negativer Realzins von 2,5%. Für eine Investition in zehnjährige Bundesanleihen sieht die zu erwartende Bilanz noch erdrückender aus, wenn man beabsichtigt, das Papier bis zur Endfälligkeit zu halten. Gemessen an den aktuellen Inflationserwartungen ergibt sich ein Kaufkraftverlust von etwa 20%. Für Sparer ist das dramatisch, für Schuldner hingegen können die negativen Realzinsen ein Segen sein. Angesichts der Schuldenexplosion, nicht zuletzt im Zusammenhang mit Corona, dürften die Verantwortlichen darauf aus sein, dass zumindest die Realzinsen noch sehr lange sehr negativ bleiben.
Was sind die größten Verzerrungen, die in der Realwirtschaft durch die negativen Bondrenditen entstanden sind?
In der Realwirtschaft sind die unmittelbaren Auswirkungen kaum sichtbar, zumal es in der Privatwirtschaft in der Regel keine negativen Kreditzinsen gibt. Die EZB hat zahlreiche Studien veröffentlicht, die zu dem Schluss kommen, dass die Inflation und das Wirtschaftswachstum ohne Negativzinsen in den vorigen zehn Jahren noch niedriger ausgefallen wären. Längerfristig entscheidend könnte jedoch sein, dass das sehr niedrige Zinsniveau Ineffizienzen zementiert, indem normalerweise unrentable Investitionen sich rechnen, die Produktivität leidet und sogenannte Zombie-Firmen entstehen.
Und was sind die größten Verzerrungen, die an den Finanzmärkten durch negative Bondrenditen entstanden sind?
Zweifellos animieren negative Zinsen die Sparer, größere Risiken einzugehen. Das trägt zur Entstehung von Finanzmarktblasen bei. Hinzu kommt, dass Ungleichgewichte verstärkt werden, etwa zwischen der Generation, die bereits in den vergangenen Jahren am Kapitalmarkt investiert war und durch fallende Zinsen Vermögenszuwächse erfahren hat, und der Generation, die nun bei deutlich höheren Bewertungen etwa für Aktien oder Immobilien mit dem Kapitalaufbau beginnen muss.
Das Interview führte