LEITARTIKEL

Gipfelsturm

Nach mehreren Anläufen hat es der Dax nun geschafft. Per Ende 1987 mit 1 000 Punkten an den Start gegangen, hat der Index mehr als 26 Jahre später den fünfstelligen Bereich erreicht, zum Wochenbeginn auch auf Schlussbasis. Den allzu häufig...

Gipfelsturm

Nach mehreren Anläufen hat es der Dax nun geschafft. Per Ende 1987 mit 1 000 Punkten an den Start gegangen, hat der Index mehr als 26 Jahre später den fünfstelligen Bereich erreicht, zum Wochenbeginn auch auf Schlussbasis. Den allzu häufig gedankenlos verwendeten Begriff “psychologisch wichtige Marke” wird man in diesem Fall wohl ohne Bedenken verwenden können. Denn dass auch psychische Phänomene am Werk waren, zeigt die zögerlich-vorsichtige Art, in der sich die Marktteilnehmer an diese große Schwelle herangewagt haben. Damit könnte nach der Überwindung der 10 000er Barriere nun aber auch eine Hemmschwelle fallen und der Weg für eine Avance um mehrere Hundert Punkte in der nächsten Zeit frei sein.Doch wie groß kann das Aufwärtspotenzial jetzt noch sein, fragen sich zu Recht viele Marktteilnehmer. Schließlich hat die Rally, in deren Verlauf der Dax um 180 % gestiegen ist, mit etwas mehr als fünf Jahren ein stattliches Alter erreicht. Seit rund zwei Jahren steigen die Kurse, getrieben von üppiger Liquidität und extrem niedrigen Zinsen, ohne dass die Unternehmensgewinne mitziehen. Damit ist die Bewertung nun im besten Fall noch gerade angemessen und würde sich bei weiteren Zugewinnen in den teuren Bereich begeben. Da die Wende nach oben bei den Unternehmensgewinnen und bzw. den Ergebnisprognosen der Analysten weiterhin auf sich warten lässt, stellt sich immer dringender die Frage, wie lange der Markt unter dem Einfluss der Liquiditätsschwemme und des Niedrigzinsumfeldes ohne eine entsprechende Verbesserung der fundamentalen Basis in die Höhe klettern kann.Die Antwort muss wohl lauten, dass der Aktienmarkt in dem aktuellen Umfeld absolut in der Lage ist, noch deutlich zuzulegen, und durchaus auch nach oben überraschen kann. Anleger werden auf Dauer angesichts magerer Zinsen nicht anders können, als auf Risiko-Assets zurückzugreifen. Die Zinsen werden noch lange niedrig bleiben und anschließend voraussichtlich nur allmählich und moderat steigen. Mit konventionellen Kriterien wie etwa dem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) kann das Aufwärtspotenzial des Aktienmarkts derzeit wahrscheinlich gar nicht erfasst werden, weil wir Zeugen eines historischen einmaligen wirtschaftspolitischen Experiments sind, mit entsprechend einmaligen Auswirkungen an den Finanzmärkten. Warum sollte das KGV des Dax in diesem Umfeld nicht auch noch von derzeit 13,5 auf 15 oder 16 steigen können?Aufgrund des unkalkulierbaren Ausgangs des Experiments der Zentralbanken ist der Gipfelsturm der Aktienmärkte aber auch mit Vorsicht zu genießen. Durch die außergewöhnlichen geldpolitischen Maßnahmen, die letztlich normale Risiken vorübergehend ausgeschaltet haben, ist der Markt außer Kraft gesetzt und bilden sich Blasen. Besonders deutlich zeigen dies derzeit die Anleihemärkte. In der Überzeugung, dass die Zinsen sehr lange sehr niedrig bleiben werden, gehen die Anleger zunehmend Risiken ein. Hochzinspapiere bieten nur noch Erträge, die vor wenigen Jahren mit Sparbüchern zu erzielen waren. Peripherie-Anleihen haben rekordniedrige Renditen erreicht und rentieren teilweise unter US-Niveau, obwohl von einer Lösung des Schuldenproblems keine Rede sein kann. Was würde wohl ein Marsmensch denken, fragte kürzlich ein Analyst, wenn er in seinem Urlaub in Euroland bei rekordhoher Arbeitslosigkeit, mäßigem Wachstum, einem fragilen Bankensystem und steigender Verschuldung Zehnjahresrenditen unterhalb von 3 % vorfinden würde?Investoren sollten sich bei einem weiteren Aufwärtsschub an den Aktienmärkten vor Augen halten, dass damit die Anfälligkeit für Enttäuschungen seitens der konjunkturellen Entwicklung und der Unternehmensgewinne – von krisenhaften Ereignissen wie einem Wiederaufflammen der Schuldenkrise ganz zu schweigen – deutlich zunehmen würde, und über eine Reduzierung von Aktienengagements auf noch höheren Niveaus nachdenken. Warnsignale, die das rechtfertigen würden, gibt es genug. Dazu zählt die Volatilität, die nicht nur an den Aktienmärkten, sondern auch in anderen Asset-Klassen wie Anleihen, Devisen und Rohstoffen mehrjährige Tiefststände und teilweise rekordniedrige Niveaus erreicht hat. Auch dies ist zwar zu einem großen Teil eine Folge der ultralockeren Geldpolitik und könnte wie diese noch recht lange erhalten bleiben. In der Vergangenheit haben sich aber mit recht hoher Zuverlässigkeit an Phasen extrem niedriger Volatilität Phasen mit heftigen Marktturbulenzen angeschlossen.——–Von Christopher KalbhennMit konventionellen Kriterien wie dem Kurs-Gewinn-Verhältnis kann das Aufwärtspotenzial des Aktienmarkts derzeit wahrscheinlich gar nicht erfasst werden.——-