Hoffen auf einen Sieg der Vernunft
Britische Aktien haben eine Menge Erholungspotenzial. Voraussetzung dafür, dass es sich entfalten kann, ist allerdings ein nahezu reibungsloser Austritt des Landes aus der EU. Bislang ist völlig unklar, wie sich der Brexit vollziehen wird. Entsprechend schlecht ist die Stimmung vieler Anleger.Von Andreas Hippin, LondonWeil niemand weiß, ob und in welcher Form sich der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU in diesem Jahr vollziehen wird, haben Schätzungen des Jahresendstands des FTSE 100 (Footsie) wenig Sinn. Noch ist der im Namen von Premierministerin Theresa May ausgehandelte Austrittsvertrag nicht vom britischen Parlament abgesegnet. Eine einvernehmliche Lösung, wenn auch in letzter Minute, ist aber nach wie vor bei vielen Investmentbanken das Basisszenario. Dahinter steckt die Hoffnung, dass sich die Vernunft durchsetzen wird. Packt man die Erwartung dazu, dass sich in diesem Jahr auch eine Übereinkunft zwischen den Vereinigten Staaten und China ergeben wird, die das Wachstum der Weltwirtschaft zurückhält, ergibt sich ein vergleichsweise optimistischer Ausblick – solange es nicht zu einem Brexit ohne jede Übereinkunft mit Brüssel kommt. Nach dem zweistelligen Einbruch des Footsie im Vorjahr ist das Erholungspotenzial groß.Auch von den Anlegern, die sich im Dezember an einer Umfrage der Website Interactive Investor beteiligten, waren nur wenige pessimistisch gestimmt. Lediglich 15 % gingen davon aus, dass der Footsie im laufenden Jahr unter 6 500 Punkte fallen wird. Er hatte sich auf 6 728,13 Punkten aus dem Jahr 2018 verabschiedet. Mehr als ein Drittel verortete den Jahresschlusskurs zwischen 6 500 und 7 000 Punkten, und um die 30 % setzten ihn zwischen 7 000 und 7 500 Punkten an. Weiter oben wird die Luft dünner. Immerhin 13 % trauten dem Index zwischen 7 500 und 8 000 Punkte zu. Und 8 % hofften darauf, dass er erstmals auf einem Stand von über 8 000 Punkten ins neue Jahr 2020 gehen wird. Schlechte StimmungDie vergleichsweise positive Stimmung, die sich aus der Befragung ergibt, verträgt sich nicht mit dem Umstand, dass das seit 1995 vom Vermögensverwalter Hargreaves Lansdown (HL) erhobene Anlegervertrauen im Dezember auf ein neues Rekordtief gerutscht ist. Es war der dritte Tiefststand binnen vier Monaten. Die Stimmung war demnach schlechter als nach dem Platzen der Internetblase, während der Finanzkrise oder der europäischen Staatsschuldenkrise. “Es fehlt jedes Anzeichen feiertäglicher Freude, und angesichts der Vorgänge in Westminster ist das auch nicht verwunderlich”, sagte Laith Khalaf, Senior Analyst bei HL. “Die politische Unsicherheit rund um den Brexit wirft weiterhin einen langen, dunklen Schatten auf das Anlegervertrauen.” Solange sich nicht abzeichne, wohin die Reise gehe, bleibe die Stimmung im Keller. Britische Aktienfonds verzeichneten der Investment Association zufolge zuletzt Abflüsse, allerdings stammen die neuesten Daten aus dem Oktober.Wenn das Parlament in der kommenden Woche dem Austrittsvertrag zustimmt, sind heftige Kursreaktionen möglich. Barclays hatte vor dem ursprünglichen Abstimmungstermin im Dezember eine Rally britischer Banken und Hausbaugesellschaften für möglich gehalten. Die Aktien von Finanzinstituten wie der Royal Bank of Scotland könnten um 10 % bis 15 % zulegen. Falle der Deal durch, sei dagegen ein Kursrutsch von bis zu 10 % drin. Liberum Capital traut neben den Finanzinstituten und Hausbaugesellschaften der Freizeitindustrie Kursgewinne zu, sollte es zu einer Erholung kommen. Ihre Analysten haben neben dem Baukonzern Balfour Beatty den Baumaterialhersteller Howden Joinery auf der Kaufliste. Wetten auf ÜbernahmenEine Möglichkeit, die Unsicherheit rund um den Brexit weitgehend zu umgehen, besteht darin, sich auf Sondersituationen und Mergers & Acquisitions zu konzentrieren. Im vergangenen Jahr hatte sich mit dem Internet-Supermarkt Ocado ein absoluter Außenseiter an die Spitze der Kursgewinner gesetzt. Das schwache Pfund macht den Einstieg ausländischer Käufer wahrscheinlicher. Es gibt eine ganze Reihe von Unternehmen wie Renishaw oder Spirax-Sarco, die immer wieder als Übernahmeziele gehandelt worden sind. Allerdings sind sie nicht ganz billig. Die Analysten von Peel Hunt haben andere Namen auf ihrer Liste für das neue Jahr, das Glücksspielunternehmen 888 Holdings etwa, das eine eigene Technologieplattform und zwei Jahrzehnte Know-how mitbringt, oder den “Smart Audio”-Experten Frontier Smart Technologies. Sie verweisen zudem darauf, dass Julian Dunkerton und James Holder, die Gründer der Textilkette Superdry, zunehmend Front gegen das Management machen. Sie seien gut positioniert, um “eine aktivistischere Herangehensweise” an das Geschäft zu unterstützen. Die Absatzprobleme der Kette, die im vergangenen Jahr zu den Tieffliegern an der Londoner Börse gehörte, seien kurzfristiger Natur.