IM INTERVIEW: HENDRIK LEBER, ACATIS

"Ich habe Weimar 1923 vor Augen"

Vermögenswalter rechnet längerfristig mit zweistelliger Inflation - Coronakrise bietet Chancen für Aktien der Bereiche Medizin und Technologie

"Ich habe Weimar 1923 vor Augen"

Der Frankfurt Assetmanager Hendrik Leber setzt auf Sachwerte. Aktien bringen die Rendite, die er brauche, sagt der Chef der Investmentgesellschaft Acatis. Die Coronakrise hat für den Vermögensverwalter mehrere Trends verstärkt. Seit mehr als einem halben Jahr haben wir die Coronakrise mit massiven Auswirkungen auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte. Herr Leber, waren Sie von dem Ausbruch der Krise überrascht?Wir glauben immer, dass die Finanzmärkte sehr mächtig sind – aber die Entwicklung zeigt uns, dass die Natur noch mächtiger ist. Wenn heute Analysten davor warnen, dass die Börsen überbewertet sind, dann hören die Anleger genau hin. Doch dass etwas aus einer anderen Ecke kommen würde, war für mich vorhersehbar. Ich will hier nicht als Schlaumeier auftreten, aber wir müssen anerkennen, dass in der Natur ständig Risiken lauern. Wie haben Sie den Crash erlebt?Mitte Februar haben wir schon wieder die ersten chinesischen Aktien gekauft, Alibaba und die Hotelkette Huazhu, zu der auch Steigenberger gehört. Dann kam der Crash vom 17. März und das war eine echte Freudenstunde. Ich habe zu meinen Mitarbeitern gesagt, solch einen Moment erlebt man in für Dekaden nicht mehr. Ab jetzt hieß es, an der Börse auf die Jagd zu gehen. Welche Titel hatten Sie im Visier?Der Virus gewann Einfluss auf die Wirtschaft und da denkt man in erster Linie an Medizin und Pharma. Ich beobachte sehr genau, was in der Medizin passiert und wir sind beispielsweise bei Biontech investiert. Was die Krise betrifft, sehe den Impfstoff als Hauptansatzpunkt im Kampf gegen die Pandemie. Schon jetzt kann man sehr gute Fortschritte in der Impfstoffentwicklung sehen. Ich rechne damit, dass der Spuk in drei bis sechs Monaten vorbei ist. Gut passt in das Bild auch Gerresheimer, die 1 Mrd. Ampullen für 4,5 Cent pro Stück produzieren. Es ist auch unglaublich, wie schnell sich die globale wissenschaftliche Zusammenarbeit entwickelt hat. Die Erkenntnisse verbreiten sich heute schneller als der Virus. Was sind andere Trends, die durch die Krise verstärkt worden?Da gibt es für mich drei Leitmotive. Erstens: Die Welt wird immer virtueller. Zweitens: Die Starken werden stärker. Drittens: Die Welt wird immer globaler. Beim Thema virtuell fällt mir sofort das Kino ein, das verliert, während Netflix gewinnt. Und was die Globalisierung angeht, heißt: Lokales Reisebüro gegen globales Booking.com. Das Reisebüro bekommt noch ein letztes Mal Geld von der KfW und dann ist es vorbei. Booking.com bekommt weiter Geld vom Kapitalmarkt. Die Monate nach dem Crash haben eine Rally in der Tech-Branche mit sich gebracht. Sind die Ihnen nicht viel zu teuer?Das ist unterschiedlich. Amazon können wir gut rechnen, weil das Cloud-Geschäft so unglaublich profitabel ist. Facebook ist interessant wegen der Blockchain. Wenn man sich nun mal vorstellt, wo die Menschen die meiste Zeit im Internet verbringen, dann gehört Facebook dazu – neben Youtube und Google. Wenn es mir gelänge, hier Zahlungsverkehr anzudocken, dann wäre ich als Unternehmen über Nacht die größte Bank der Welt. Genau auf diesem Weg ist Facebook – mit der Blockchain eine Bank mit 1,5 Mrd. Kunden zu werden. Ich muss das Konzept von Facebook nicht mögen, aber ich muss anerkennen, dass sie erfolgreich sind. Wie halten Sie es mit den real existierenden Banken?Die tun mir leid, das Geschäft ist vorbei. Die Banken sind so etwas wie das Kaufhaus, das keiner mehr braucht. Die bieten alles an, doch in jedem Bereich kommt ein innovativer Spezialist und macht ihnen das Leben schwer. Das Universalbankgeschäft wird wirklich von allen Seiten aggressiv angegangen. Und dann kommt noch die Regulierung, sodass man nicht mal mehr im Handel Geld verdienen kann. Aber sind die Banken nicht systemrelevant?Ist das so? Und wenn, dann wird die Systemrelevanz nicht bezahlt. Warum waren die Banken 2008 systemrelevant? Weil die Menschen ihnen vertraut haben. Heute ist das ein auslaufendes Geschäftsmodell. Im Bankbereich wird man vieles von Grund auf neu aufbauen müssen. Auch in der Automobilindustrie wird vieles neu auf- und abgebaut. Was halten Sie von Tesla?Tesla versucht am Markt eine neue Kategorie von Produkt zu schaffen, so wie es Apple mit den iPhones gelungen ist. Aber das ist nicht vergleichbar. Ein Autohersteller trifft auf etablierte Verhaltensmuster, Autokäufer sind Beharrungskäufer. Ich glaube schon, dass Tesla weiterwachsen wird. Aber sie werden nicht den Markt abräumen. Warum nicht?Es wird eine große Welle von E-Autos auf den Markt kommen, die mit Subventionen massive gefördert werden. Da ist es schwer, seinen Platz zu behaupten, und ich höre auch, dass bei Tesla die Qualität nachgelassen hat. Über die Bewertung brauchen wir sowieso nicht zu reden, gemessen daran ist ein Tesla-Pkw von der Börse 250-mal so hoch bewertet wie ein normales Auto. Selbst mit dem enormen Wissensvorsprung, den Tesla durch die selbstfahrende Autotechnologie hat, sind solche Bewertungen nicht zu rechtfertigen. Sie haben also die deutsche Autoindustrie noch nicht aufgegeben?Nein, ich möchte eine Lanze für die heimische Autoindustrie brechen. Die deutschen Hersteller werden durch die Regulierung in China und in der EU gezwungen, E-Autos zu bauen. Und weil die Autos politisch in den Markt gedrückt werden, stellen sich bald Skaleneffekte ein. Von Autobranche zum Thema Mobilität. Das Reisegeschäft ist zusammengebrochen, das Homeoffice ist in. Was für Konsequenzen hat das für Sie?Ich sehe, dass in den Innenstädten bald Büros leer stehen, und auch Shoppingmalls haben keine Zukunft. Aber der Wunsch zu reisen ist riesig, das wird alles wiederkommen. Wenn die Menschen dieses Jahr an der Ostsee waren, dann wollen sie nächstes Jahr in die warme, weite Welt. Nur bei Geschäftsreisen wird wohl nur die Hälfte zurückkommen. Können Sie wenigstens daraus Anlageideen generieren?Die Überlegungen machen klar: Fluggesellschaften wie Lufthansa sind schwierig. Doch es gibt ein Aber: Ein Unternehmen, das 150 Flugzeuge aus dem Verkehr zieht, hat vielleicht Potenzial für Preiserhöhungen in den nächsten Jahren. Das muss man abwarten. Interessanter sind Flughafenbetreiber, denn Flughäfen sind Shoppingmalls mit angeschlossener Rollbahn. Dort gibt es eine Verweilzeit, dort gibt es Kunden, die Geld loswerden möchten. Dass die Märkte sich erholt haben, lag auch am Zusammenspiel von Geldpolitik und Fiskalpolitik. Mit dem Ergebnis von einer Dauernullzinspolitik und gigantischen Schulden. Wie sehen Sie das?Extrem kritisch. Sicher ist es vertretbar, einmal mit einer Niedrigzinsphase der Wirtschaft ein paar Jahre zu helfen. Doch da wieder herauszukommen, ist das Problem. Das hat auch schon nach der Finanzkrise 2008 nicht funktioniert. Die Befürchtung ist, dass die Wirtschaft zum Stillstand kommt, wenn man das Geld verknappt. Dann hilft es aber nichts, eine Modern Monetary Theory (MMT) zu erfinden und dann zu glauben, dass einem etwas geschenkt wird – wie viele Ökonomen das jetzt tun. Nein, Schulden sind ein Problem, denn Schulden sind ein Generationenvertrag. Geldgeber sind heute die Menschen, die in Zukunft eine Pension haben wollen. Aber ist die Frage, ob die junge Generation das Spiel mitmachen wird. Wie geht es aus?Ich erwarte, dass die Inflation kommt, und habe Weimar 1923 vor Augen. Ich rechne mit zweistelligen Inflationsraten. Das wird zu einer echten Vermögensumverteilung führen. Aber wie soll es sonst gehen – Schulden müssen irgendwie zurückgezahlt werden, das ist ein Naturgesetz. Und wann rechnen Sie mit so einer massiven Inflation?Das kann noch dauern, auch zehn bis 20 Jahre. Aber man wird merken, wenn es losgeht. Die Inflation kommt nicht über Nacht. Und was machen Sie?Erst einmal heißt es, in Sachwerte, also Aktien zu gehen. Aktien bringen die Rendite, die ich brauche. Bei Aktien geht es nicht nur um Rendite, sondern auch um eine gute Unternehmensführung. Da gab es in der Vergangenheit Fälle, die alles andere als erfreulich war.Wenn Sie Wirecard meinen, das ist für mich eindeutig kriminell. Das war auch schon früh zu spüren, denn man bekam vom Management nur mehr nichtssagende Antworten. Kürzlich ist Grenke Ziel einer Shortseller-Attacke geworden. Sie haben sich für das Unternehmen starkgemacht, warum?Das überhaupt kein Vergleich. Ich glaube, dass bei Grenke an 95 % der Vorwürfe nichts dran ist. Leider hat das Unternehmen agiert wie ein überforderter Mittelständler, der die Governance-Regeln des Marktes nicht kennt. Ich glaube nicht, dass Anlegern bei Grenke ein Schaden entstanden ist. Im Gegenteil, man muss doch fragen, ob man den Hedgefonds nicht haftbar machen kann für Marktmanipulation. Zur Governance gesellt sich meist Umwelt und Soziales – zusammen ESG. Wie halten Sie es damit?Die UN-Ziele SDG finde ich richtig spannend. Denn da geht es darum, ob das Unternehmensprodukt die Welt nach vorn bringt. Nehmen wir das Ziel Armut – und das Unternehmen Paypal, das ein Mikrokreditprogramm hat. Das zahlt genau auf das Ziel ein. Verglichen damit sind ESG-Kriterien, die bestimmte Parameter wie den CO2-Fußabdruck messen, rückwärtsgerichtet. Was halten Sie von der vorgeschlagenen EU-Taxonomie?Bei diesem Regelwerk wird mir schwindlig. Da gibt es hunderte von Bedingungen und hunderte von Ausnahmen – das ergibt doch keinen Sinn. Da hat jemand etwas zusammengeschustert, was nach ESG aussehen soll. Für mich ist das ganz klar eine Überregulierung. Das Interview führte Wolf Brandes.