In Tokio fehlen die Kurstreiber
Angesichts der stürmischen Entwicklung an den Börsen in China ist an Japans Aktienmarkt Ruhe eingekehrt. Viele Investoren reagierten auf das Ausbleiben von neuen Kursimpulsen mit Zurückhaltung. Dabei sprechen viele Argumente weiter für japanische Titel. Allerdings sind die Prognosen für die Unternehmensgewinne im neuen Geschäftsjahr hinter den Erwartungen der Analysten zurückgeblieben.Von Martin Fritz, TokioWegen der starken Rally in China findet der japanische Aktienmarkt in diesem Jahr bei internationalen Investoren wenig Beachtung. Dabei sind die Bewertungen in Hongkong und Schanghai inzwischen so stark gestiegen, dass die Tugenden japanischer Titel umso mehr auffallen müssten. Nippons Firmen wollen ihre Gewinne auch in diesem Jahr steigern. Zugleich erhöhen sie ihre Dividenden und kaufen vermehrt Aktien zurück. Zudem erlebt das Land nach der Rezession durch die Steuererhöhung im April 2014 einen Aufschwung. Die Exporte steigen seit dem Spätherbst. Einzelhandel und Immobilienmarkt kommen in Schwung, sagte der Chefvolkswirt der Notenbank, Eiji Maeda, am Montag. Dennoch spricht einiges dafür, dass in Japan inzwischen eher die Zeit der Aktienpicker als der Indexkäufer gekommen ist. Der wichtigste Katalysator für die Kurse bleibt das endgültige Ende der Deflation. Die Bank of Japan will ihr Inflationsziel von 2 % bis 2017 erreichen, auch wenn die Inflationsrate in diesem Jahr zunächst bis unter null sinken könnte. Die stabil hohe Inflationserwartung der Firmen und die guten Konjunkturdaten deuten jedoch nicht auf einen neuen Deflationsschub. Daher will Notenbankgouverneur Haruhiko Kuroda seine Geldschleusen nicht weiter öffnen. Dieser Kurstreiber fällt weg. Auch die stützenden Käufe von Pensionsfonds, die in Erwartung der Inflation von Anleihen in Aktien umschichten, dürften enden, sobald sie ihre Portfolioquoten erreicht haben. Das Volumen dieser Fonds wächst wegen der Überalterung nicht mehr. Starke KursgewinneDie starken Kursgewinne seit Ende 2012 wurden von höheren Erträgen der Unternehmen getragen. Doch die Firmenprognosen für 2015 (ab 1.4.) sind hinter dem Konsens des Finanzmarktes zurückgeblieben. Nach Berechnungen von Morgan Stanley beträgt dieser Abstand beim Nettoertrag 3,8 % und beim Betriebsergebnis 1,4 %. Nur der Umsatzausblick liegt um 0,9 % über den Schätzungen der Analysten. Konservative PrognosenNach der Erfahrung von Merrill Lynch fallen die Auftaktprognosen allerdings eher konservativ aus. Seit zehn Quartalen hätten die Firmen jedenfalls den Marktkonsens übertroffen, ermittelte Morgan Stanley. Goldman Sachs sieht das stärkste Gewinnwachstum im Finanzsektor. Nomura bestätigte Dai-ichi Life und Tokio Marine Holdings als Top-Titel. Tatsächlich haben die Ausblicke im produzierenden Gewerbe etwa von Toyota eher enttäuscht. Hajime Kitano, Chefstratege von Barclays Japan, hält den Gewinntrend für nicht nachhaltig. Die Abwertung des Yen um die Hälfte innerhalb von zwei Jahren habe die Erträge aufgeblasen. Eine Aufwertung würde die Erträge belasten. Auch die UBS bekräftigte ihre neutrale Haltung. Der Kursanstieg in diesem Jahr sei lediglich die Folge von gestiegenen Bewertungen. Die Verbesserung der Corporate Governance als dritter Faktor hat wohl dabei geholfen, dass der Nikkei 225 Ende April erstmals seit 15 Jahren die Schwelle von 20 000 Yen überwinden konnte, ohne dass der Yen dafür weiter abwerten musste. Die Dividendensumme der 3 500 börsennotierten Gesellschaften für das abgelaufene Jahr soll um weitere 6 % auf den Rekordwert von über 10 Bill. Yen (74 Mrd. Euro) wachsen. Dazu kommt eine steigende Zahl von Aktienrückkäufen. Die Unternehmen bauen hohe Barmittelbestände ab und stützen dabei Aktienpreis und Marktkapitalisierung. Hier wirkt sich zum einen der neue JPX-Nikkei 400-Index aus, der seit Januar 2014 die 400 Firmen mit hohen Renditen enthält. Zum anderen reagieren die Manager auf neue Richtlinien für eine moderne Unternehmensführung, die derzeit in Kraft treten. Doch Investoren müssen genau hinschauen: So erhöhte Nissan die Dividende um 27 % und steigerte dabei auch die Auszahlungsquote auf 36 %. Dagegen stieg die Toyota-Dividende um 25 % lediglich mit dem Gewinn. Die Ausschüttungsquote blieb bei 30 %. Toyota sitzt weiter auf dicken Cashpolstern. Überraschungen im FokusGenerell haben Anleger in Japan Aktien bevorzugt, die positiv überraschten, und sich dabei nicht um hohe Bewertungen geschert – etwa bei Fanuc, Nintendo oder Sony. Dagegen wurden Titel, die den Konsens enttäuschten, eher verkauft. Dazu gehörten Werte wie Epson und Hitachi. Anders als früher wirken sich Skandale länger und negativer aus – etwa bei McDonald’s Japan, Takata und Benesse Japan. Handelshäuser wie Mitsubishi Corp. gerieten durch hohe Abschreibungen auf ihre Rohstoffinvestitionen in die Kritik, trösteten aber ihre Anleger mit höheren Dividenden. Sorgfältige Auswahl scheint daher das Gebot der Stunde zu sein.