Indien hofft auf einen Wirtschaftsboom

Börse in Mumbai seit Jahresbeginn rund 25 Prozent im Plus - Aktien schon hoch bewertet

Indien hofft auf einen Wirtschaftsboom

Von Ernst Herb, HongkongIndien scheint seine verlorenen fünf Jahre hinter sich zu lassen. Eine wachsende Zahl von Indikatoren weist darauf hin, dass das stagflatorische Konjunkturklima in der drittgrößten asiatischen Volkswirtschaft einem nachhaltigen Wachstumszyklus Platz gemacht hat. Davon scheint auch die Börse Mumbai auszugehen, die seit Anfang des Jahres rund 25 % zugelegt hat.Grund für den Optimismus der Investoren ist nicht nur die Wahl des als wirtschaftsfreundlich geltenden Narendra Modi zum indischen Ministerpräsidenten im Mai, sondern auch eine überzeugende Geldpolitik der Reserve Bank of India (RBI) und die wegen der fallenden Rohstoffpreise billiger gewordenen Importe. Dank all dem hat die Ratingagentur Standard & Poor’s ihren Ausblick für die indischen Außenverbindlichkeiten kürzlich von “negativ” auf “stabil” angehoben.Nachdem Indien Mitte 2013 infolge eines beschleunigten Abflusses von Kapital ins Ausland nahe an den Rand einer Zahlungsbilanzkrise rückte, setzte der zyklische Aufschwung bereits Anfang 2014 ein. Grund dafür war vor allem eine noch von der alten Regierung eingeleitete beschleunigte Bewilligung von Infrastruktur- und Industrieprojekten.Nachdem das Wachstum in dem im März beendeten Finanzjahr 2013/14 erstmals in zwei Dekaden unter 5 % gefallen war, soll es sich gemäß den Projektionen der Weltbank 2014/15 auf 5,6 % und im Jahr darauf auf 6,5 % belaufen. Die südasiatische Nation würde sich damit gegen den Trend anderer großer Schwellenländer entwickeln. Deren Dynamik hatte in den vergangenen Monaten infolge der sinkenden externen Nachfrage und fallender Rohstoffpreise sowie teilweise auch interner Strukturprobleme deutlich nachgelassen.In Indien haben sich die guten Nachrichten seit Anfang des Monats in schneller Folge aneinandergereiht. Das war auch der Grund dafür, dass die Börse Mumbai von der jüngsten globalen Verkaufswelle weit weniger betroffen war als andere Aktienmärkte. Vergangenes Wochenende trug Modis Bharatiya Janata Party (BJP), die im nationalen Parlament eine absolute Mehrheit der Abgeordneten stellt, in zwei wichtigen Regionalwahlen einen überzeugenden Sieg davon. Sensex feiert WahlerfolgDamit wächst nicht nur der Einfluss im nach wie vor von der Opposition dominierten Oberhaus. Modis Reformagenda kann jetzt vielmehr vereinfacht auf der Ebene der Teilstaaten, die über ein sehr großes Maß an Autonomie verfügen, umgesetzt werden. Der Hauptindex der indischen Börse, der Sensex, reagierte auf den BJP-Erfolg Anfang der Woche mit einem Plus von beinahe 2 %.Bereits in der Vorwoche hatte Modi eine Liberalisierung des Energiemarktes und eine damit verbundenen Streichung von hohen Subventionen für Treibstoffe angekündigt. Damit geht der Premierminister nicht nur gegen das hartnäckige Haushaltsdefizit vor, sondern setzt auch Mittel für den Bau von wichtigen Infrastrukturprojekten frei.Aktien von indischen Erdöl- und Erdgaskonzernen wie Oil & Natural Gas Corp. oder Hindustan Petroleum reagierten darauf mit deutlichen Kursanstiegen. Nur wenige Tage zuvor war eine Teilreform des bisher sehr rigiden Arbeitsrechtes angekündigt und die Verschlankung der Investitionsgesetzgebung eingeleitet worden. So soll etwa bis Ende 2015 eine Online-Plattform bereitgestellt werden, auf der Unternehmen alle Bewilligungen ob auf nationaler oder lokaler Ebene in einem Schritt einholen können.Modi hat in seinem vorherigen Amt als Chefminister von Gujarat bewiesen, dass er Reformen nicht nur verspricht, sondern auch umsetzen kann. Dem verdankt der westindische Teilstaat ein in den vergangenen Jahren unverändert hohes Wachstum von jährlich beinahe 10 %. Ökonomen sprechen denn auch von einem Indien, das ein jährliches Wachstum von bis zu 8 % realisieren kann und damit bereits in zwei oder drei Jahren in der Dynamik China überholen wird.Allerdings gibt es auf dem Weg dorthin auch Gefahrenzonen zu durchqueren. Indien hat zwar sein Zahlungsbilanzdefizit von weit über 4 % der Wirtschaftsleistung über die vergangenen zwei Jahren auf wahrscheinlich noch 1,5 % im laufenden Jahr senken können. Wesentlich dafür verantwortlich war neben den Zinserhöhungen der RBI der Preisverfall bei Erdöl und Gold. Doch bleibt das Land kurz- und mittelfristig auf ausländische Portfolioinvestitionen angewiesen. Angesichts der Tatsache, dass indische Aktien mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 15 gerade auch im Vergleich mit anderen Schwellenländern sehr hoch bewertet werden, sind diesem Zufluss Grenzen gesetzt. Risiko US-ZinsanstiegSollte es etwa im Falle schneller als erwartet erfolgender Zinserhöhungen in den USA erneut zu einem beschleunigten Kapitalabfluss ins Ausland kommen oder der Erdöl- und Kohlepreis deutlich steigen, so hätte das für Indien einschneidende Auswirkungen. Andererseits dürften die weniger volatilen ausländischen Direktinvestitionen in den kommenden zwei Jahren dank des verbesserten Anlageklimas deutlich steigen.Allein Japan will bis 2019 rund 32 Mrd. Dollar in Infrastrukturprojekte wie neue Zugverbindungen investieren. China steht mit 20 Mrd. Dollar nur leicht zurück. Nicht zuletzt daher dürften Transporthindernisse, die Waren “made in India” im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz teurer machen, in den kommenden Jahren verschwinden. Das wird sich entsprechend auf die Kaufkraft der Konsumenten und die Gewinne der Unternehmen auswirken. Indien könnte nach fünf verlorenen Jahren unter Modi ein Jahrzehnt des Booms bevorstehen.