Indiens Börsen im freien Fall

Schwache Banken, zurückhaltende Konsumenten und verunsicherte Investoren bremsen Wachstum

Indiens Börsen im freien Fall

In Indien wurden bislang nur wenige Coronafälle registriert. Doch die Börse reagiert heftig. Am Freitag wurde der Handel nach einem Verlust von 10 % zeitweise automatisch ausgesetzt. Seit Jahresbeginn liegen die Kurse in Mumbai mit über 30 % im Minus – in einer Zeit wachsender wirtschaftlicher Probleme. Von Ernst Herb, HongkongIndiens Börsen korrelieren in normalen Zeiten wenig mit den globalen Aktienmärkten. In der drittgrößten Volkswirtschaft Asiens werden die Aktienkurse nicht von den amerikanischen Leitbörsen, sondern vor allem von Ereignissen wie etwa den der Landwirtschaft bescherten Niederschlägen, lokalen Wahlen und der Geldpolitik der Reserve Bank of India (RBI) getrieben.Doch dieser Tage zeigt sich eine außergewöhnliche Entwicklung. Nachdem die Hauptindizes der Börse Mumbai bereits am Donnerstag erschreckt von dem massiven Kurseinbrüchen in New York, London und Tokio mit einem Tagesminus von 8 % schlossen, wurde am Freitag der Handel nach einem Verlust des BSE Sensex und Nifty 50 von 10 % zeitweise automatisch ausgesetzt. Seit Jahresbeginn liegen beide Indizes mit über 30 % im Minus. Anleger in PanikDie Panik der Investoren angesichts der Pandemie ist umso bemerkenswerter, als in Indien bisher anders als in China nur wenige Covid-19-Fälle aufgetreten sind. Doch geht in der größten Demokratie der Welt dieser Tage nicht nur die Furcht vor einer Pandemie um. Der Nation mit ihren 1,3 Milliarden Einwohnern macht dieser Tage auch eine ganze Reihe wirtschaftlicher und politischer Probleme zu schaffen, so etwa die unter einer Riesenlast fauler Kredite ächzenden Staatsbanken, der höchste Stand der Arbeitslosigkeit in vier Jahrzehnten oder jüngst auch die Pogrome hindunationalistischer Fanatiker gegen Muslime.Die massiven Kursverluste der vergangenen Tage stehen in grellem Kontrast zum historischen Hoch des Sensex vom 17. Januar. Die Bewertungen indischer Aktien hatten damit allerdings auch die langjährigen durchschnittlichen Bewertungen deutlich überschritten. Der Höhenflug der Börse Mumbai war umso bemerkenswerter, als sich das Wachstum der indischen Wirtschaft infolge deutlich rückläufiger Sachinvestitionen und eines schwachen Konsums der Privathaushalte bereits in der zweiten Hälfte 2019 verlangsamt hatte. Das Wachstum ist allein deshalb nicht weiter zurückgegangen, weil die Regierung das zuvor bestehende Defizitziel zur Finanzierung eines Stimulierungsprogramms erhöht hat.Zwischen Oktober und Dezember hat das Bruttoinlandsprodukt mit 4,7 % gegenüber demselben Zeitraum 2018 dennoch das langsamste Wachstum seit beinahe sieben Jahren hingelegt. Die Angst vor der weiteren Ausbreitung des Coronavirus in Indien selbst hat mittlerweile die Kauffreude der indischen Konsumenten weiter gedrückt. Einheimische Unternehmen spürten in den vergangenen Wochen auch die durch Quarantänemaßnahmen in China und Südkorea gestörten Lieferketten. Nachdem die Regierung von Premierminister Narendra Modi vergangene Woche Reisebeschränkungen für aus dem Ausland kommende Reisende verhängt hat, dürfte in den kommenden Wochen und Monaten auch die in den vergangenen Jahren zunehmend wichtiger gewordene Tourismusindustrie erhebliche Einbußen hinnehmen müssen.Die Asiatische Entwicklungsbank (ADB) geht davon aus, dass die Folgen der Pandemie Indiens Wirtschaft im schlimmsten Fall 1,2 % ihres Wachstums kosten könnten. Gemäß Prognosen der UBS wird Indiens BIP in dem Anfang April beginnenden Finanzjahr um 5,1 % expandieren. Ein Wirtschaftswachstum von rund 5 % ist zwar im Vergleich zu den reifen Industriestaaten immer noch eine beachtliche Zahl, doch für Indien mit seinen jährlich über 10 Millionen neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Bürgern deutlich zu wenig.Dabei zeichnet sich angesichts der strukturell bedingten Wachstumsabschwächung vorderhand keine markante Erholung der Wirtschaft ab. Vielmehr gehen etwa vom schwachen Bankensystem weiterhin erhebliche Risiken aus. Nachdem Mitte 2019 bereits eine auf die Finanzierung von Infrastruktur spezialisierte Schattenbank Zahlungsunfähigkeit angemeldet hat, musste sich Anfang März die private Yes Bank unter das Dach der RBI stellen.Der an der amerikanischen Eliteuniversität Harvard lehrende indische Volkswirt Arvind Subramanian spricht denn auch von einem “großen Abschwung der indischen Wirtschaft”. Der ehemalige Regierungsberater malt dabei schon einmal das Szenario einer ausgewachsenen Finanzkrise an die Wand, wie sie Indien infolge einer von einer Hyperinflation begleiteten massiven Kapitalflucht ins Ausland zuletzt 1991 erlebt hatte.Allerdings dürfte Indien zunächst noch einige Distanz von einer vollen Wirtschaftskrise entfernt sein. Das zeigt sich etwa daran, dass das Land mit seiner riesigen Zahl an Konsumenten weiterhin ein attraktiver Zielort ausländischer Direktinvestitionen bleibt. Diese stiegen gegenüber dem gleichen Zeitraum 2018 im Verlauf vom April bis September 2019 März bis 15 % an. Auch ist Indiens Verschuldung im Ausland mit 18,5 % gemessen am Bruttoinlandsprodukt gerade auch im Vergleich zu vielen anderen Ländern weiterhin gering. Fehler der indischen PolitikVor allem hat auch die Notenbank weiterhin erheblichen Freiraum in ihrer Geldpolitik. Zwar stiegen die Einzelhandelspreise im Februar um 6,58 % an und bewegten sich damit weiterhin über der von der RBI vorgegebenen Bandbreite von 2 bis 6 %. Doch dürfte gerade die für den Netto-Energieimporteur wichtigere Kerninflation infolge des eingebrochenen Erdölpreises deutlich zurückgehen.Entscheidend für die wirtschaftliche Zukunft dürfte indes vor allem die Frage sein, ob Premierminister Narendra Modi in den kommenden Monaten angesichts der nervösen globalen Finanzmärkte erneut größere finanzpolitische Fehler macht. Unvergessen bleibt etwa der Fehltritt von Ende 2016, als die Regierung durch ein über Nacht angekündigtes Programm beinahe 90 % des Bargelds aus der Zirkulation nahm. Damit sagte Modi zwar dem Schwarzgeld den Kampf an, doch brach in der Folge der Privatkonsum ein.Nachdem Modis hindunationalistische Partei Bharatiya Janata vor zehn Monaten in einem Erdrutschsieg aus den allgemeinen Parlamentswahlen hervorging, sind in Indien die Spannungen zwischen religiösen Gruppierungen infolge einer Reihe von kontroversen neuen Gesetzen gefährlich angestiegen. Damit riskiert Modi, dass sich das Investitionsklima weiter verschlechtert. Was das heißt, zeigt ein Blick auf Indiens hartnäckiges Zahlungsbilanzdefizit, das Indien auch in Zeiten höchst volatiler Börsen vom Zufluss ausländischen Kapitals abhängig macht.