Indische Aktien verdienen einen Aufschlag
Indische Aktien verdienen einen Aufschlag
Die Marktkapitalisierung Indiens im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt (BIP), anekdotisch ein guter Maßstab für die allgemeine Bewertung eines Aktienmarkts, liegt auf einem 10-Jahre-Hoch bei 150%. Auch die Bewertungen vieler Small und Mid Caps sind in bestimmten Sektoren fragwürdig. Abgesehen von kurzfristigen Bewertungsfragen finden wir die Vorstellung, Indien mit anderen größeren Märkten in der Region in einem Atemzug zu nennen und zu vergleichen, manchmal frustrierend und oft amüsant. Aber wir sind zuversichtlich, dass sich Kapital, das in indischen Aktien investiert wird, in schwierigen Zeiten erhalten und es langfristig stetig vermehren lässt. Ein struktureller Faktor spricht langfristig für diesen Markt: die Transparenz und die Regulierung.
Mehr Offenheit
Wir überprüfen regelmäßig die Veränderungen im Aufsichtsrat und Management unserer Portfoliounternehmen. Die meisten davon finden unweigerlich „aus persönlichen Gründen“ statt. Ganz anders las sich die Begründung des prominenten Board-Mitglieds Nisa Godrej, als sie kürzlich ihr Mandat beim börsennotierten Konsumgüterhersteller Godrej Consumer niederlegte: „Aufgrund meiner abweichenden Ansichten zu Rechenschaftspflichten für Führungskräfte und zur Nachfolgeplanung werde ich mit Wirkung zum 3. Juni 2024 aus dem Aufsichtsrat ausscheiden.” Wir waren positiv von ihrer Offenheit überrascht. Die meisten unabhängigen Aufsichtsräte geben in der Regel vage Gründe für ihren Rücktritt an. Hierdurch bleiben die Minderheitsaktionäre im Unklaren über die tatsächlichen Probleme. Die indische Börsenaufsichtsbehörde, Securities and Exchange Board of India (SEBI), änderte dies, indem sie detailliertere Offenlegungen zu den Rücktritten von Führungspersonal verlangte. Künftig wird ein Aufsichtsrat, der aus „persönlichen Gründen“ das Mandat niederlegt, gefragt, warum er weiterhin in anderen Aufsichtsgremien tätig ist. Neue Mandate könnten ihm sogar für mindestens ein Jahr untersagt werden, was eine wirksame Abschreckungsmaßnahme darstellt. Dennoch sind die meisten Rücktritte weiterhin alltägliche, belanglose Angelegenheiten. Hin und wieder erhalten Aktionäre einen Einblick in die Politik, die die Dynamik in den Gremien börsennotierter Unternehmen bestimmt. Dies ist oft ein Gradmesser für die Unternehmenskultur, die unserer Meinung nach ein entscheidender Faktor für den langfristigen Erfolg eines Unternehmens ist. Uns ist kein anderes Schwellenland bekannt, das in diesem Maße Transparenz und Offenlegung einfordert.
Vorausschauendes Handeln
Das Thema zieht sich wie ein roter Faden durch den gesamten indischen Markt. Es gibt immer etwas zu bemängeln, aber im Großen und Ganzen (und im Verhältnis zu seinem Entwicklungsstand) ist das Finanzsystem Indiens führend, wenn es darum geht, die Interessen von Einzelpersonen zu schützen – sei es für Aktieninvestoren, Anleger, Kreditnehmer oder Versicherungsnehmer. So hat die Reserve Bank of India kürzlich angefangen, Maßnahmen gegen kleine unbesicherte Kredite zu ergreifen. Normalerweise sehen wir in anderen Schwellenländern solche Maßnahmen erst, wenn die notleidenden Kredite (NPLs) im System bereits in die Höhe schnellen und das Bankensystem gerettet werden muss. Anders in Indien, wo sich die NPL-Quoten aktuell auf einem Zehn-Jahres-Tief befinden. Doch die Aufsichtsbehörde hatte frühzeitig die Fehlentwicklung erkannt, die, wenn sie nicht im Keim erstickt worden wäre, das System und einzelne Kreditnehmer potenziell geschädigt hätte.
Verbraucherschutz
In ähnlicher Weise wies die Versicherungsaufsicht kürzlich Lebensversicherungsunternehmen an, ihren Kunden auch bei vorzeitiger Kündigung einer Police angemessene Auszahlungen zu leisten. Aktuell erhalten die Policeninhaber nichts oder nur eine geringe Auszahlung, wenn sie ihre Prämien nicht mehr zahlen. So erwirtschaften die meisten indischen und auch internationalen Lebensversicherer einen Großteil ihrer Gewinne. Die Branche steht in dem Ruf, die Profite ihrer Vertreterschaft und Unternehmen über die Bedürfnisse der Kunden zu stellen. Die Regulierungsbehörde in Indien beabsichtigt nicht weniger, als die Bedürfnisse der Verbraucher von der niedrigsten Priorität an den Spitzenplatz zu setzen. Die beabsichtigte Stoßrichtung erscheint uns löblich – und wir sehen selten, dass man sich in anderen Rechtsordnungen derart für die Verbraucher stark macht.
Rechte von Minderheitsaktionären
Egal ob es sich um Offenlegung und die Regeln zu Mitverkaufsrechten, die Unabhängigkeit von Aufsichtsratsmitglieder, Aktienverpfändungen oder ESG-Daten handelt, sind wir immer wieder positiv überrascht von den Entwicklungen in Indien. Es ist auch ermutigend zu sehen, dass Aktionäre die ihnen gewährten Schutzmechanismen nutzen. Zum Beispiel musste der Vorschlag des Mutterkonzerns von Nestlé India, die Lizenzgebühren von 4,5% auf 5,25% zu erhöhen, den Minderheitsaktionären zur Abstimmung gestellt werden. 57% stimmten gegen den Vorschlag, was sich direkt auf das zukünftige Ergebnis des Unternehmens auswirkte. Die Liste der Beispiele lässt sich fortsetzen: Als die Minderheitsaktionäre einen Vorschlag von Linde India ablehnten, der das Geschäfte des Unternehmens stark eingeschränkt und dafür die Aktivitäten von Praxair India vor dem Hintergrund der weltweiten Fusion von Linde und Praxair begünstigt hätte, stellte sich die Regulierungsbehörde auf die Seite der Minderheitsaktionäre. Anleger hatten Beschwerden eingelegt, dass Linde India das Votum der Minderheitsaktionäre effektiv ignoriert hatte. Die SEBI ernannte einen unabhängigen Gutachter, um die Angemessenheit der Transaktionen zwischen den verbundenen Unternehmen zu überprüfen. So sollte sichergestellt werden, dass die Interessen der Minderheitsaktionäre geschützt werden.
Wo entsteht mehr Wert?
Es gibt Investoren, die sich über sogenannte „Value Up“-Programme in Südkorea oder Ähnliches in Japan freuen, wodurch der Shareholder Value gesteigert werden soll, oder darüber, wie die Regulierungsbehörden in China den Aktienmarkt ankurbeln könnten. Gleichzeitig werden die hohen Bewertungen guter Unternehmen in Indien hinterfragt. Unternehmen, die von guten Managern geführt werden, die um die Bedeutung ihrer Kapitalrendite und guter Governance wissen, und von Regulierungsbehörden beaufsichtigt werden, die immer besser darin werden, das Richtige für alle Interessengruppen zu tun. Am Ende bleibt uns allen die Wahl, ob und wie wir am indischen Aktienmarkt investieren. Und die Antwort hängt von unseren Ansichten ab. Ist der Schutz aller Anspruchsgruppen einen Aufschlag wert? Ist ein höheres Bewusstsein für Kapitaleffizienz in der Unternehmensleitung einen Aufschlag wert? Sind Unternehmen, die ihr langfristiges Schicksal selbst in die Hand nehmen, einen Aufschlag wert? Ist ein Land mit einer jungen, gebildeten und aufstrebenden Bevölkerung, die sich rasch urbanisiert, einen Aufschlag wert? Ist ein Markt, in dem die Demokratie erneut den Sieg errungen hat, einen Aufschlag wert? Der Markt selbst wird die Antwort liefern.
Vinay Agarwal ist Director und Fondsmanager des FSSA Indian Subcontinent Fund.