Irrationaler Überschwang: Game over bei Gamestop?
Die Aktienmärkte sind mit viel Schwung ins neue Jahr gestartet. Der Dax übersprang zuletzt die Marke von 14000 Punkten, und auch die großen US-Indizes erreichten historische Höchststände. Eigentlich wenig verwunderlich, angesichts der globalen Zinsflaute und des immer weiter um sich greifenden Anlagenotstands. Dennoch gibt es nicht wenige Anleger, die mittlerweile ein mulmiges Gefühl bekommen, wenn sie auf die Aktienmärkte schauen. Sind die hohen Kurse tatsächlich gerechtfertigt, oder entwickelt sich gerade eine große Spekulationsblase, die unweigerlich platzen muss?
Ein Musterbeispiel für eine in kürzester Zeit entstandene Kursblase ist die Aktie des US-Unternehmens Gamestop, ein Einzelhändler, der vor allem Computerspiele verkauft. Da das Unternehmen 2018 und 2019 Verluste erwirtschaftete und sich die wirtschaftlichen Perspektiven aufgrund der Corona-Pandemie weiter verschlechterten, rückte es in den Fokus von Short-Sellern, also Anlegern, die auf fallende Kurse setzen. So hatten einige US-Hedgefonds in den vergangenen Monaten große Leerverkaufspositionen aufgebaut, weil sie davon ausgingen, dass sie sich zu einem späteren Zeitpunkt zu niedrigeren Kursen mit der Aktie eindecken könnten.
Allerdings haben die Hedgefonds die Rechnung ohne die vielen Privatanleger gemacht, die sich auf der Internetplattform Reddit in dem Forum „wallstreetbets“ zusammengetan haben, um den Aktienkurs von Gamestop durch gemeinsame (zum großen Teil gehebelte) Käufe seit Jahresbeginn in immer größere Höhen zu treiben. Dazu beigetragen haben neu entstandene Trading-Plattformen wie Robinhood, die es ihren zumeist jungen Kunden ermöglichen, Optionen auf Aktien kostenlos zu handeln. Mit derartigen Finanzinstrumenten wird mit einem ursprünglich kleinen Einsatz auf geradezu wundersame Weise ein großer Effekt erzielt, der dadurch verstärkt wurde, dass die Short-Seller gezwungen waren, ihre Leerverkaufspositionen einzudecken, indem sie die Aktie ebenfalls kauften. Das John Maynard Keynes zugeschriebene Sprichwort „Der Markt kann länger irrational bleiben als Sie liquide“ lässt grüßen. Seit Jahresbeginn ist der Kurs von Gamestop deswegen rasant in die Höhe geschossen: von knapp 20 auf fast 500 US-Dollar bis Ende Januar.
Mit fundamentalen Argumenten lässt sich dieser Kursanstieg nicht begründen, und wieder einmal zeigt sich, dass die These eines effizienten Marktes kurzfristig nicht immer Gültigkeit besitzt. Spekulative Übertreibungen, die durch einen ausgeprägten Herdentrieb entstehen, sind an den Kapitalmärkten jedoch nichts Neues und häufig dann zu beobachten, wenn viel Liquidität im Spiel ist. Aber irgendwann geht jeder irrationale Überschwang zu Ende, und aus jeder Blase entweicht zwangsläufig die Luft. Entweder dann, wenn Notenbanken beginnen, mit einer restriktiveren Geldpolitik die Überschussliquidität zu reduzieren, oder wenn Anleger ihre Buchgewinne realisieren wollen und die dann vorhandene Nachfrage nach der Aktie nicht mehr ausreicht, um die Kurse auf dem aktuellen Niveau zu halten. Für diejenigen, die dann zu spät kommen, heißt es dann nicht mehr „Gamestop“ sondern „Game over“. Der jüngste Kursrutsch der Aktie auf rund 50 US-Dollar dürfte noch nicht das Ende der Fahnenstange darstellen.
Doch auch wenn es noch andere Indizien dafür gibt, dass Anleger bei einigen Aktien zu euphorisch sind, halten wir die Aktienmärkte nicht generell für überbewertet. Zwar ist der Dax mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis von 15 auf Basis der in zwölf Monaten erwarteten Unternehmensgewinne gut 20% teurer verglichen mit dem Durchschnitt seit dem Jahr 2003, der Stoxx 50 und der japanische Nikkei-Index sind derzeit gut 25% höher bewertet. Für den S&P 500 und die Nasdaq 100 beträgt der Aufschlag sogar 44% bzw. knapp 60%. Das Bild relativiert sich jedoch, wenn man die Zinsentwicklung als wichtigen Erklärungsfaktor für die Bewertung von Aktien mit in die Betrachtung einbezieht. Aufgrund der expansiven Geldpolitik der Notenbanken ist das Renditeniveau von Staats- und Unternehmensanleihen in den vergangenen Jahren fast kontinuierlich gesunken. Anleger, die ihr Vermögen auf liquide Anlageklassen wie Aktien und Anleihen aufteilen, konnten in den vergangenen Jahren trotz der immer niedrigeren Anleihekupons von Kurssteigerungen profitieren, so dass es sich ausgezahlt hat, einen Teil seines Vermögens in festverzinsliche Wertpapiere anzulegen.
Anleihen uninteressant
Es spricht jedoch viel dafür, dass die Renditen für Staatsanleihen in diesem Jahr nicht weiter sinken. Kurssteigerungen sind somit unwahrscheinlich, und die laufenden Zinszahlungen sind für die meisten Investoren nicht sonderlich attraktiv. Von daher sind auf Anleihen basierende Anlagestrategien für viele Anleger uninteressant geworden, so dass diese auf eine höhere Aktienquote setzen müssen, um ihre Ertragsziele zu erreichen. Genau dies bringt das Akronym „TINA“ (There Is No Alternative) zum Ausdruck.
Die relative Attraktivität von Aktien gegenüber Anleihen veranschaulicht der Vergleich zwischen dem Aktien-KGV und dem Renten-KGV, das sich aus dem Kehrwert der aktuellen Anleiherendite errechnet. Sowohl im Vorfeld des Crashs im Jahr 2000 als auch bei dem im Jahr 2008 hatten die Federal Reserve und die Europäische Zentralbank ihre Leitzinsen erhöht. Die Rendite für eine zehnjährige Bundesanleihe lag Anfang 2000 bei mehr als 5% und die für eine zehnjährige US-Treasury bei mehr als 6%. Auch Anfang 2008 lagen die Renditen mit jeweils gut 4% deutlich höher, als es heute der Fall ist. Auf dieser Basis lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass die Bewertung der Aktienmärkte immer noch im Rahmen des durch die Zinsen Erklärbaren liegt. Für die noch teureren Technologiewerte gilt, dass auch hier der Zins der wesentliche Erklärungsfaktor für die optisch hohe Bewertung ist: Da viele Technologieunternehmen einen Großteil ihrer Gewinne erst in der Zukunft erzielen, sind die zukünftigen Erträge bei heutiger Betrachtung umso mehr wert, je geringer der Diskontierungsfaktor ist.
Eine Bewertungsblase würde erst dann entstehen, wenn bei einem unveränderten Aktien-KGV der Zins bzw. die Rendite von Staatsanleihen deutlich ansteigt. Angesichts der Tatsache, dass sowohl die Europäische Zentralbank als auch die Federal Reserve zuletzt klargestellt haben, dass sie an ihrer expansiven Geldpolitik noch für sehr lange Zeit festhalten werden, ist davon aber nicht auszugehen. Bleiben die Renditen auf dem aktuellen Niveau, würde dies aber auch bedeuten, dass Aktien keinen weiteren Rückenwind von noch höheren Bewertungskennzahlen bekommen. Eine positive Aktienmarktentwicklung könnte dann allein auf höheren Unternehmensgewinnen beruhen.
Genau dies halten wir auch für eine sehr plausible Annahme. Die Berichtssaison für das vierte Quartal 2020 zeigt, dass sich die Unternehmensgewinne positiver entwickelt haben, als dies die Unternehmensanalysten prognostiziert haben. In den USA, wo bereits mehr als die Hälfte aller Firmen aus dem S&P 500 ihre Quartalszahlen veröffentlicht haben, konnten rund 80% der Unternehmen die Gewinn- und Umsatzerwartungen übertreffen. In Europa sieht das Bild ähnlich aus. Dies dürfte dazu führen, dass die Gewinnprognosen für die nächsten Quartale angehoben werden.
Auch wenn in Europa und gerade auch bei uns in Deutschland derzeit die Sorgen vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der neuen Corona-Mutationen sowie die Nachrichtenlage um die Verfügbarkeit der Impfstoffe eine beherrschende Rolle spielen, halten wir das Szenario einer starken wirtschaftlichen Erholung ab März dieses Jahres weiterhin für sehr wahrscheinlich. Die Revision der Prognosen für das deutsche Wirtschaftswachstum im Jahr 2021 seitens des IWF von 4,2 auf 3,5% und der Bundesregierung von 4,4 auf 3,0% könnte sich als vorschnell erweisen, denn das vergangene Jahr hat gezeigt, wie schnell sich die Wirtschaft erholt, wenn die wirtschaftlichen Beschränkungen reduziert bzw. aufgehoben werden. Hoffnung macht dabei der deutliche Rückgang der vom Robert-Koch-Institut ermittelten 7-Tage-Inzidenz, die zuletzt auf einen Wert von 64,2 (Stand 11. Februar 2021) gefallen ist. Hält dieser Trend an, wird die 7-Tage-Inzidenz am 20. oder 21. Februar auf 50 und bis Ende Februar auf 35 sinken. Drücken wir die Daumen, dass dies gelingt! Dann haben auch die Aktienmärkte noch Luft für weitere Zugewinne.