Lateinamerika erlebt eine gigantische Kapitalflucht
Von Andreas Fink, Buenos AiresLateinamerikas Finanzmärkte befinden sich seit einem Monat im freien Fall. Der Subkontinent erlebt nach dem Absturz der Ölpreise und der Corona-Pandemie eine gigantische Kapitalflucht, deren Ende noch niemand abzusehen vermag.Davon betroffen sind aktuell aber nicht nur chronisch fragile Volkswirtschaften wie Argentinien und Venezuela, sondern auch langjährige Marktlieblinge wie Chile und Kolumbien sowie Brasilien, das nach den wichtigen Wirtschaftsreformen im Vorjahr noch als vielversprechender Markt gegolten hatte. Mit 2 bis 2,5 % Wachstum im Jahr 2020 kalkulierten die meisten Geldhäuser.Doch nun droht eine Rezession. Vor zwei Wochen revidierte Goldman Sachs ihre Wachstumsprognose von 1,5 % auf – 0,9 % in diesem Jahr, und J.P. Morgan errechnete 1 % Rückgang. Inzwischen werden noch weitaus dramatischere Szenarien diskutiert. Monica de Bolle vom Peterson Institute for International Economics in Washington sagte kürzlich gar voraus, dass ein plötzlicher Stopp der Kapitalzuflüsse eine Schrumpfung um 6 % auslösen könnte. Die Notenbank hat den Leitzins vergangene Woche von 4,25 auf ein Rekordtief von 3,75 % gesenkt, was allerdings die Talfahrt nicht aufhalten konnte. Der Real hat seit Jahresanfang mehr als 20 % gegenüber dem Dollar verloren. Der Ibovespa, der zu Jahresanfang bei über 118 500 Punkten rangierte, lag Ende der Vorwoche bei gut 67 000 Punkten. Fatale KombinationSüdamerikas größte Volkswirtschaft erlebt derzeit eine fatale Kombination aus internationalen und inländischen Schocks. Denn zum Ausfall des wichtigsten Exportkunden China und dem Ölpreisverfall kommt ein Zerwürfnis zwischen Parlament und Präsident, das die Vertiefung der im Vorjahr begonnenen Reformpolitik gefährdet. Dass Präsident Bolsonaro erst spät die Grenzen schloss, erzeugte Widerstand in der Mittel- und Oberschicht. Epidemiologen befürchten einen massiven Seuchenausbruch in den Armenvierteln. Das könnte den Druck auf den Präsidenten erhöhen. Seit der vergangenen Woche diskutiert Brasilien über ein Amtsenthebungsverfahren.Erratisch agiert auch Mexikos populistischer Präsident López Obrador, der das Corona-Risiko bis heute kleinredet und das Land nicht völlig zum Stillstand bringen will. Der Ölpreiseinbruch traf das Förderland massiv, dazu dürfte sich die weitgehende Grenzschließung für den Personenverkehr durch die US-Regierung negativ niederschlagen. Der Dollar legte im vergangenen Monat von 18,5 auf 24 Peso zu.Die Analysten der UBS halten ein weiteres Abrutschen im zweiten Quartal für wahrscheinlich und prognostizieren für 2020 zudem eine Rezession von 3,5 %. Die Regierung habe weitaus weniger finanziellen Spielraum als 2008, um mit fiskalpolitischen Maßnahmen gegenzusteuern, was auch am schlechten Zustand des Ölriesen Pemex liege.Chile hatte nach den Protesten zum Jahresende zu einem erneuten Wachstumsschub angesetzt, wurde aber durch das Virus zurückgeworfen. Die vitalen Kupferexporte litten unter dem China-Einbruch. Sollte nun das seit Jahrzehnten unterversorgte öffentliche Gesundheitssystem nicht standhalten, könnten neue Proteste aufflammen. Um das zu verhindern, hat Präsident Piñera für 90 Tage den Katastrophenfall ausgerufen, seit Sonntagabend übernimmt das Militär in den 16 Regionen die Kontrolle. Piñera will vor allem Klein- und Mittelbetriebe mit einem Förderpaket über die nächsten drei Monate bringen, das fast 12 Mrd. Dollar umfassen soll. Das entspricht ungefähr 4,7 % des BIP. Der Peso gab seit Jahresbeginn wie der peruanische Sol deutlich nach. Kolumbiens und Uruguays Peso werteten um mehr als 20 Prozent ab. Verschärfte KapitalkontrollenDie einzig weitgehend stabile Währung der Region ist der argentinische Peso. Dies liegt vor allem daran, dass das Land seit dem Währungssturz im August 2019 wieder Kapitalkontrollen eingeführt hat und diese seither mehrfach verschärfte. Vor der Coronakrise schien es, als könnte die neue Regierung Fernández die Inflation nach einem Plus von 55 % im vergangenen Jahr senken. Doch die Gefahr einer massenhaften Ausbreitung des Virus verdunkelt die Perspektive für die schon zuvor stark angeschlagene Volkswirtschaft. Seit Freitag gilt eine Ausgangssperre. Falls die weitgehende Quarantäne eingehalten werden kann, kalkuliert die Regierung mit 250 000 Infizierten im Juni. Sollte das Gesundheitssystem nicht standhalten, seien bis zu 2 Millionen Infektionen im Juni zu befürchten, sagte der Gesundheitsminister vorigen Donnerstag. Vor diesem Hintergrund muss damit gerechnet werden, dass die Regierung die Quarantäne noch weiter verschärfen und somit die wirtschaftliche Aktivität im zweiten Quartal total abwürgen könnte.Dieses Szenario dürfte sich in den Verhandlungen um Argentiniens Schulden niederschlagen. Finanzminister Guzmán werde in dieser Woche das argentinische Angebot für eine Umschuldung von etwa 70 Mrd. Dollar nach New York schicken, heißt es aus Finanzkreisen. Die Gläubiger erwartet eine dürftige Offerte. Argentinische Bonds und Aktien stürzen in New York seit vier Wochen ab, die halbstaatliche Ölgesellschaft YPF ist heute weniger als 1 Mrd. Dollar wert. Bei der Rückverstaatlichung 2014 hatte Argentinien noch 5 Mrd. Dollar für 51 % des Unternehmens an den spanischen Repsol-Konzern gezahlt.Um die Wirtschaft über die kommenden drei Monate zu bringen, hat Finanzminister Guzmán staatliche Hilfen im Umfang von 700 Mrd. Peso angekündigt. Da das Land keinerlei Reserven besitzt, werden diese nach aktuellem Kurs etwa 11 Mrd. Dollar wohl mit der Notenpresse finanziert. IWF-Direktorin Kristalina Georgiewa sagte vorige Woche, Argentinien brauche einen “substanziellen Erlass der Schulden” von Seiten der privaten Gläubiger. Sollte sich das Land nicht schnell mit diesen einigen, droht Mitte Mai der neunte Staatsbankrott der Geschichte.