Schwellenländer

Lateinamerika ist unterbewertet

Mehrere lateinamerikanische Währungen scheinen nach den meisten quantitativen Devisenmetriken unterbewertet zu sein.

Lateinamerika ist unterbewertet

Von Carlos de Sousa*)

Das vergangene Jahr hat gezeigt, dass die Notenbanken der meisten großen Schwellenländer inzwischen über genug Glaubwürdigkeit und ausreichend tiefe Finanzsektoren verfügen, um in Krisenzeiten eine antizyklische Politik betreiben zu können. Sie haben umfangreiche geldpolitische Impulse gegeben und viele von ihnen haben mit ähnlichen Maßnahmen der quantitativen Lockerung experimentiert wie die Fed oder die EZB. Das steht im Gegensatz zu früheren Krisen, bei denen die Zentralbanken der Schwellenländer ihre Geldpolitik prozyklisch straffen mussten, was letztlich die wirtschaftliche Erholung verzögerte. Dieser Fortschritt hatte jedoch einen hohen Preis: Da die EM-Zinsen durchweg auf historische Tiefststände fielen und infolgedessen die EM-Währungen schwächer notierten, wurde der EM-Carry-Trade so gut wie ausgelöscht. Es wird allgemein erwartet, dass die Fed und die meisten Zentralbanken der Industrieländer ihre Geldpolitik kurzfristig straffen werden. Viele Zentralbanken in den Schwellenländern heben die Zinsen aber bereits an und werden dies auch weiterhin tun, und zwar in einem viel schnelleren Tempo. Das hat dem EM-Carry-Trade zu einem Comeback verholfen, allerdings sind die EM-Währungen viel schwächer als vor der Pandemie.

Politische Risikoprämien

Mehrere lateinamerikanische Währungen scheinen nach den meisten quantitativen Devisenmetriken unterbewertet zu sein. Dazu zählen wettbewerbsfähige reale effektive Wechselkurse, günstige Terms of Trade und eine überwiegend positive Leistungsbilanzdynamik. Allerdings sind in diesen Währungen politische Risikoprämien enthalten, die schwieriger zu quantifizieren sind, aber ihre relative Billigkeit erklären könnten. Dies gilt für den Real in Brasilien, sowie für den kolumbianischen und den chilenischen Peso. In allen diesen Ländern sind die jeweiligen Rohstoffpreise im historischen Vergleich hoch, was die Exporteinnahmen dieser Länder in die Höhe treibt. Die außenwirtschaftliche Position Brasiliens ist dabei besonders günstig. Aber der politische Elefant im Raum hat die Währungen billig gehalten. Wetten darauf erfordern daher Verständnis der Innenpolitik, um das richtige Timing zu erwischen.

Der brasilianische Real hat sich von den jüngsten Tiefstständen erholt und könnte sich in den nächsten Monaten weiter erholen, solange es nicht zu einem weiteren politischen Zwischenfall kommt. Das Problem ist, dass solche Vorfälle in Brasilien viel zu häufig vorkommen, weshalb Vorsicht geboten ist. Im Jahr 2016 führte die Regierung des damaligen Präsidenten Michel Temer ein Gesetz ein, welches die realen Staatsausgaben bis 2026 einfriert. Diese Maßnahme würde letztendlich dazu führen, dass der Anteil der Staatsausgaben am BIP schrumpft, was die Regierung im Grunde zu Sparmaßnahmen zwingt. Nun sinkt aktuell die Popularität des amtierenden Präsidenten Jair Bolsonaro, und es scheint wahrscheinlich, dass er die Präsidentschaftswahlen 2022 gegen den linksgerichteten Ex-Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva verlieren wird. Gleichzeitig muss die Bundesregierung einen überraschend hohen Betrag an gerichtlich angeordneten Zahlungen an die Regionalregierungen (Precatórios) leisten, was die Einhaltung der Ausgabenobergrenze im Jahr 2022 erschwert. Bolsonaro hat also starke Anreize, die Ausgabenobergrenze zu erhöhen, und genau das tut er auch, was der Grund für den Ausverkauf im Oktober war. Die gute Nachricht ist, dass die Regierung beabsichtigt, die Ausgabenobergrenze nur geringfügig zu überschreiten. Das sollte die Schuldentragfähigkeit nicht gefährden. Die schlechte Nachricht ist, dass damit ein Präzedenzfall geschaffen wird, der es der nächsten Regierung wahrscheinlich erlauben wird, ein weiteres Schlupfloch zu finden, um mehr auszugeben. Das wiederum könnte die Tragfähigkeit der Schulden in der Zukunft gefährden. Zumindest für den Moment hat sich die Unsicherheit über den finanzpolitischen Kurs im Jahr 2022 jedoch verringert, so dass der Real gegenüber dem Dollar weiter an Boden gewinnen dürfte. Die Rückkehr zweistelliger Zinssätze auf dem Real-Anleihemarkt wird den Kurs zusätzlich stützen, zumindest bis die Präsidentschaft Lulas vollständig eingepreist ist. Aber das ist eine Geschichte für 2022.

In Chile hat sich der Peso in den vergangenen Monaten radikal von den Kupferpreisen abgekoppelt, da die Märkte einen Sieg des linken Kandidaten Gabriel Boric bei den Präsidentschaftswahlen in diesem Monat eingepreist hatten. In den letzten Wochen hat die Währung jedoch deutlich an Boden gewonnen, da der rechtsgerichtete Kandidat José Antonio Kast in den Umfragen zulegen konnte. Die Ablehnung einer vierten Rentenanhebung durch den Senat in dieser Woche hat die Erholung des Peso ebenfalls beschleunigt. Ein Sieg von Kast würde sicherlich zu marktfreundlicheren Aussichten führen, aber ideal ist auch das nicht. Das Land ist nun politisch zwischen der extremen Linken und der extremen Rechten gespalten, was der sozialen Stabilität nicht förderlich ist. Wir sind allerdings der Meinung, dass sich der Peso und chilenische Vermögenswerte im Allgemeinen wahrscheinlich weiter erholen werden, falls Kast die Präsidentschaft in einer Stichwahl gegen Boric gewinnt. Anleger sollten dies jedoch eher als taktisches Spiel betrachten. Die Ausarbeitung einer neuen Verfassung unter der Leitung einer von der extremen Linken dominierten verfassungsgebenden Versammlung wird im Jahr 2022 höchstwahrscheinlich zu neuen sozialen Konflikten führen.

Auch in Kolumbien finden 2022 Präsidentschaftswahlen statt, und der linksextreme Kandidat Gustavo Petro liegt in den Umfragen vorn, was verhindert, dass der Peso trotz hoher Ölpreise stark ansteigt. Relativ niedrige Zinssätze (bei einer niedrigeren Inflation als in anderen Ländern) belasten die Währung ebenfalls. Doch die Zukunft könnte für den Peso rosiger aussehen. Die Zentralbank erhöht bereits die Zinssätze, und der Straffungszyklus dürfte sich in den kommenden Monaten beschleunigen, wodurch die Währung wieder an Attraktivität gewinnt. Die Aussichten für die Wahlen sind wesentlich unsicherer. Petro liegt in den Umfragen mit etwa 25% der Stimmen in Führung, gefolgt vom Zentrums-Kandidaten Sergio Fajardo mit nur 11% Unterstützung.

Wähler sind unentschlossen

Aber etwa 59% der Kolumbianer sind noch unentschlossen, so dass Umfragen wenig aussagekräftig sind. Die Bürger in der Region wünschen sich aufgrund der enttäuschenden Leistungen ihrer derzeitigen Regierung einen Wandel, aber dieser Wandel muss nicht unbedingt in der Wahl eines populistischen Kandidaten resultieren. So wurde beispielsweise in Ecuador dieses Jahr der Mitte-rechts-Ex-Banker Guillermo Lasso zum Präsidenten gewählt. Er ist im Grunde das Gegenteil eines Populisten. Entsprechend könnte in Kolumbien der Zentrist Fajardo die Wahlen im nächsten Jahr gewinnen, weil er eine Abkehr von der langen Historie der rechtskonservativen Regierungen darstellt. Dann hätte der Peso viel zu gewinnen.

*) Carlos de Sousa ist Emerging Markets Strategist und Portfoliomanager bei Vontobel.