GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (117)

Lehren der Coronakrise für Privatanleger

Börsen-Zeitung, 9.5.2020 Kapitalmarktverwerfungen decken Fehler in der strategischen Asset-Allokation (langfristige Aufteilung des Portfolios in Anlagen unterschiedlichen Risikos) oder in der eigenen Investment Governance (wie reagiere ich auf...

Lehren der Coronakrise für Privatanleger

Kapitalmarktverwerfungen decken Fehler in der strategischen Asset-Allokation (langfristige Aufteilung des Portfolios in Anlagen unterschiedlichen Risikos) oder in der eigenen Investment Governance (wie reagiere ich auf Portfolioverluste) auf. Eine gute Zeit für Anleger, ihr Portfolio und ihr Anlageverhalten zu überdenken.Beginnen wir mit den häufigsten Verhaltensfehlern. An erster Stelle steht hier der “home bias”, also die Tendenz von Anlegern, zu viel Geld in ihren Heimatmarkt zu investieren. Europäische Anleger halten beispielsweise mehr Anlagen in Europa, als es der Marktkapitalisierung Europas in der Welt entspricht.An zweiter Stelle stehen die Tendenz, die Wahrscheinlichkeit extremer Ereignisse zu überschätzen (“prospect theory”), und das “Gesetz der kleinen Zahl” (Übergewichten der jüngsten Vergangenheit, also einer kleinen Stichprobe). Beide Konzepte gehen auf Kahneman/Tversky zurück, als Verhaltensfehler führen sie zu einer Fokussierung auf das pessimistischste Szenario und zu einer Extrapolation der jüngsten Vergangenheit. Viele Anleger haben unter dem Eindruck der unmittelbaren Kapitalmarkterfahrung und aus Angst vor einer noch größeren Krise ihr Portfolio im Aktienmarkttief liquidiert.Als dritter Fehler ist der “endowment bias” zu erwähnen. Anleger bewerten ihr Portfolio höher, als es dem Marktwert entspricht. Beispielsweise werden Anlagen in neues Geld gedanklich anders behandelt als existierende Portfolios. Wer heute ein Portfolio aus 50 % Aktien und 50 % Renten hält, der müsste neue Veranlagungsmittel von beispielsweise 100 000 Euro in gleicher Aufteilung investieren. Wer nicht dazu bereit ist, handelt entweder nicht rational oder ist mit dem Ausgangsportfolio nicht zufrieden. Viele Anleger haben während des Abverkaufs an den Märkten neue Anlagemittel nicht investiert, aber gleichzeitig ihr existierendes Portfolio beibehalten.Der letzte Fehler betrifft die sogenannte “overconfidence”. Wer dem Aktienrisiko durch geschicktes Verkaufen erfolgreich entgehen will, der muss sich sehr sicher sein, dass er mehr Information als der Markt besitzt und dass er auch den Mut haben wird, rechtzeitig in den Aktienmarkt zurückzukehren. Erfolgreiches Timing benötigt bessere Information und zwei mutige Entscheidungen. Viele der Anleger, die ihr Portfolio Mitte März verkauft hatten, sind nicht mehr in den Markt zurückgekehrt.Ist aus dieser Fehleranalyse abzuleiten, dass Anleger in Pandemien ihr Portfolio immer beibehalten sollten? Was sagen die Standardmodelle der Portfoliotheorie? Leider sehr wenig. Ein Witz unter Wissenschaftlern lautet: Anleger in ein Markowitz-Portfolio haben weder Einkommen noch Vermögen und sie sterben nie. Er zeigt: Das Sterblichkeitsrisiko spielt in den Lehrbuchmodellen der Portfoliotheorie keine Rolle. Solange das Sterblichkeitsrisiko nicht mit Finanzanlagen oder dem Wert des eigenen Unternehmens korreliert, ist das weitestgehend unproblematisch. Doch in Pandemien besteht eine solche Korrelation. Und in der Realität besitzen Anleger selbstverständlich auch Vermögen. Verkürzt teilt sich das Vermögen eines Anlegers in Finanzvermögen und “Schattenvermögen” (exogen gegebene, nicht kurzfristig handelbare Anlagen wie das eigene Familienunternehmen oder das eigene Humankapital). Mit Blick auf das Gesamtvermögen kann es in einer Pandemie Sinn machen, die Aktienallokation im Finanzportfolio zu reduzieren. Hierfür gibt es eine Reihe von Gründen. Erstens, das Schattenvermögen sinkt, weil der Barwert zukünftiger Ersparnisse sinkt (geringeren Ersparnissen steht eine gestiegene Sterbewahrscheinlichkeit gegenüber). Zweitens, weil das Risiko des Schattenvermögens gestiegen ist. Ein Beispiel hierfür kann das eigene Unternehmen sein, dessen Zukunft durch die Pandemie gefährdet ist. Drittens, weil das Todesfallrisiko mit den Finanzanlagen korreliert ist. Verstirbt der Alleinverdiener in einem Mehrpersonenhaushalt während einer Pandemie, so sollte sichergestellt sein, dass die Familie auch ohne sein Einkommen von den Ersparnissen leben kann und dass diese nicht durch Kursverfall reduziert werden. Es ist sicherzustellen, dass die Familie nicht gleichzeitig Einkommen und bestehendes Vermögen verliert.Privatanleger sollten sich spätestens im Nachgang zur Coronakrise eine Reihe von Fragen stellen. Das idiosynkratische (nicht diversifizier- oder versicherbare) Risiko des eigenen Unternehmens ist erheblich. Wie viel Prozent meines Vermögens möchte ich wirklich in meinem Unternehmen halten? Will ich in den Assetmanagement-Prozess eingreifen können und in einer Krise die Allokation verändern? Habe ich hierfür den Informationsstand und die Erfahrung? Habe ich den Mut, auch wieder einzusteigen? Habe ich mir genug Gedanken um die strategische Allokation meines Vermögens oder um die rechtlichen Risiken (Vermögenssteuer, Enteignung) gemacht? Muss ich meine Risikotoleranz neu bestimmen? Die Beantwortung dieser Fragen ist nicht einfach und manchmal schmerzhaft. Sie ist aber Voraussetzung dafür, auch in turbulenten Börsenzeiten im Interesse des eigenen Gesamtvermögens zu agieren. Bernd Scherer, Geschäftsführer der Lampe Asset Management