Märkte preisen Brexit-Szenario ein
Viele Marktakteure haben seit Monaten Zweckoptimismus im Hinblick auf das britische EU-Referendum zur Schau getragen. Doch eineinhalb Wochen vor der Abstimmung über einen möglichen Austritt aus der Union wächst ihre Nervosität. Dazu tragen auch die spanischen Parlamentswahlen und eine Sitzung der US-Notenbank bei.Von Stefan Schaaf, FrankfurtDie Akteure an den Finanzmärkten teilen nicht die wachsende Freude vieler Briten an einem EU-Austritt. Im Gegenteil: Mit wachsender Brexit-Zustimmung steigt die Nervosität. Dies zeigt sich an einem deutlichen Anstieg der Volatilität: Der global wichtigste Volatilitätsindex, der in Chicago berechnete VIX, schoss seit Handelsbeginn am vergangenen Donnerstag um fast ein Drittel nach oben und erreichte gestern mit 18,69 Stellen den höchsten Wert seit Mitte März. Auch am Währungsmarkt äußern sich Brexit-Ängste und die heute beginnende zweitägige Fed-Sitzung. “In fast allen hier beobachteten Währungen waren in der letzten Woche überdurchschnittlich große Umschichtungen auszumachen”, kommentiert Devisenanalysten Dorothea Huttanus die jüngsten Daten zu spekulativen Positionen.Die gestiegene Nervosität rührt vor allem von der Unsicherheit über den Ausgang des britischen Referendums am Donnerstag kommender Woche her. Die von Buchmachern berechnete Wahrscheinlichkeit eines britischen EU-Austritts, des sogenannten Brexit, wurde mit 36 % so hoch eingeschätzt wie noch nie seit Ankündigung der Volksabstimmung vor vier Monaten. Damit wird die Wahrscheinlichkeit eines Verbleibs in der EU, des Bremain, zwar noch immer mit 64 % beziffert, das sind aber 14 Prozentpunkte weniger als am vergangenen Donnerstag. Meinungsumfragen deuten auf ein Kopf-an-Kopf-Rennen hin, doch einer neuen Befragung des Instituts ORB für die Zeitung “The Independent” zufolge liegen die Befürworter eines Brexit mit 55 % zehn Prozentpunkte vor den Gegnern.Da die Briten ihre Souveränität im Fall des EU-Austrittes jedoch mit einem hohen wirtschaftlichen Preis – diskutiert wird von der Rezession bis zu einer Währungskrise – wohl werden bezahlen müssen, nehmen Anleger Abstand vom Pfund und Risikoanlagen im Allgemeinen. Große Sorgen bereitet insbesondere das hohe britische Leistungsbilanzdefizit. Sollte es in einer Schocksituation zum plötzlichen Stopp von Kapitalzuflüssen zur Finanzierung des Defizits oder gar massiven Abflüssen kommen, stünde die britische Volkswirtschaft vor extremem Anpassungsdruck. Laut M & G Investments ging ein hohes Leistungsbilanzdefizit oft einer Pfund-Krise voraus.Nachdem viele Marktakteure lange Zeit sich Gelassenheit oder Zweckoptimismus übten, beginnen sie dieses Szenario nun einzupreisen bzw. sich dagegen abzusichern. “Das britische Pfund verliert in der Investorengunst”, stellt Huttanus fest. Die Positionen auf einen fallenden Pfund-Kurs haben sich im Wochenvergleich in etwa auf ein Dreijahreshoch von 66 299 Kontrakte verdoppelt. Zugleich schoss die aus Optionen berechnete Volatilität im Pfund-Dollar-Kurs jüngst in die Höhe. Die Einmonatsvolatilität in “Cable” lag gestern rund 75 % höher als zu Monatsbeginn. Am Kassemarkt sackte das Pfund zeitweilig auf 1,4116 Dollar und damit auf den tiefsten Stand seit dem 14. April ab. Der Euro stieg bis auf 79,86 Pence. “Im Falle weiterer Pro-Brexit-Umfrageergebnisse dürfte das Pfund weiter abwerten”, prognostiziert BayernLB-Volkswirtin Christiane Berg. Flucht in Gold und FrankenZur wachsenden Nervosität trägt zunehmend auch die Neuwahl des spanischen Parlamentes am 26. Juni bei (vgl. Bericht auf Seite 18). Sollte die Brexit-Kampagne erfolgreich sein, so könnte von Spanien ein weiteres Signal zum Zerfall der EU ausgehen, heißt es. Vor diesem Hintergrund und der Unklarheit über den künftigen Kurs der US-Geldpolitik gingen Anleger aus dem Risiko und verkauften insbesondere Aktien. Der Stoxx 600 als wichtigster paneuropäischer Aktienindex sackte gestern um 1,6 % auf 327,53 Stellen ab und lag damit so tief wie zuletzt Anfang April. Gefragt waren dagegen klassische sichere Häfen, etwa Schweizer Franken und Gold. Der Goldpreis erreichte ein Einmonatshoch von 1 287 Dollar, während das Pfund mit 1,3613 Franken so schwach wie zuletzt Anfang März war. Allerdings rutschte die Rendite der zehnjährigen Bundesanleihen noch nicht unter die Nulllinie und lag bei 0,03 %.—– Wertberichtigt Seite 8