Notierungsnotstand am Finanzplatz Frankfurt
Mit dem sich immer klarer abzeichnenden harten Brexit erscheint eine starke kontinentaleuropäische Börse als Gegengewicht zum global führenden Finanzplatz London zusehends wichtiger, was die Blicke zwangsläufig auf Frankfurt und die Deutsche Börse lenkt. Doch das Ansehen der deutschen Börsenwelt leidet unter einem akuten Notierungsnotstand. Das zur Bewertung nationaler Finanzsysteme oftmals genutzte Verhältnis der Börsenkapitalisierung aller in einem Land notierten Gesellschaften zum Bruttoinlandsprodukt fällt für Deutschland im Vergleich zu Ländern wie zum Beispiel Großbritannien sehr niedrig aus, und zwar nicht nur als Momentaufnahme, sondern über einen langen Zeitraum hinweg. Schrumpfende KurszettelEine detailliertere Analyse der Notierungsdynamik, also der Notierungsaufnahmen beziehungsweise -einstellungen im Zeitverlauf, führte schon vor Jahren zu einer Einsicht, die auch im Koalitionsvertrag von 2013 festgehalten wurde: “Um Börsengänge für junge, innovative und wachstumsstarke Unternehmen wieder zu beleben, werden wir die Einführung eines neuen Börsensegments Markt 2.0 prüfen.” Diese Ausrichtung wurde nochmals in einem Maßnahmenpaket des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie im Jahr 2014 betont, und im gleichen Jahr kündigte Jean-Claude Juncker, der Präsident der Europäischen Kommission, bei der Bestätigung seiner Ernennung an, den Kapitalmarktzugang über eine europäische Kapitalmarktunion zu erleichtern.Den politischen Ankündigungen sind bislang allerdings keine Taten gefolgt, die den Trend fallender Notierungszahlen gestoppt oder sogar gedreht hätten. Ähnlich wie wegschmelzende Gletscher als Mahnmal ausbleibende Maßnahmen für den Klimaschutz illustrieren, sind schrumpfende Kurszettel zum Sinnbild einer siechenden Kapitalmarktkultur geworden, deren Folgen zukünftigen Generationen ein auskömmliches Leben erschwert.Denn während die Bedeutung einer positiven Notierungsdynamik auf parteiübergreifende Lippenbekenntnisse stößt, richtete sich der Blick in Deutschland zuletzt auch vermehrt auf die Anleger- beziehungsweise Kapitalanbieterseite. Da die Bevölkerung altert und die Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten deutlich gestiegen ist, soll ein größerer Teil der Erwerbstätigen auch privat in Aktien für die Ruhestandsdauer sparen. Ungeachtet des präferierten Vorsorgemodells und der Interessenkonflikte der prominenten Unterstützer stellt sich die Frage nach dem Zustand des deutschen Aktienmarkts und somit der Befähigung zu einer sinnvollen Alternative oder Ergänzung zur gesetzlichen Rente. Wenn eine vorwiegend in nationalen Titeln implementierte Vorsorgelösung etabliert werden soll, ist ein langfristig breiter Aktienmarkt mit diversifizierbaren Anlagealternativen notwendig, was wiederum eine positive Notierungsdynamik voraussetzt. Die Anzahl der Börsengänge wird von politischer Seite als Spiegelbild der wirtschaftlichen Entwicklung interpretiert. Was aber sagen die Notierungszahlen?Um das ganze Ausmaß des deutschen Notierungsnotstands zu verdeutlichen, empfiehlt sich eine langfristige Betrachtung der gesamten deutschen Nachkriegszeit. Von den 417 Unternehmen, die zu Beginn des Jahres 1950 im amtlichen Handel gelistet waren, ist die Zahl bis 2018 auf 250 Unternehmen gesunken. Dies entspricht einer Verkleinerung des Kurszettels um 40 % in 68 Jahren. Zugleich geht die im internationalen Vergleich lange Notierungsdauer deutscher Unternehmen zurück, die im regulierten Markt seit 1950 bei 30,6 Jahren liegt. Die negative Notierungsdynamik mit immer weniger immer kürzer notierten Unternehmen zeigte zuletzt eine sich noch verstärkende Entwicklung. Mit Beginn der 2000er Jahre stieg die Anzahl an Notierungseinstellungen stark an, ganz überwiegend getrieben durch Unternehmensaufkäufe. Über den gesamten Zeitraum verlor der deutsche Kapitalmarkt netto pro Jahr 2,4 Notierungen. Es fehlen BörsenneulingeDie Wurzel dieser steten Nettoschrumpfung liegt indes weniger bei den Unternehmen, die die Börse verlassen. Für alle Arten an Notierungseinstellungen (Aufkauf, Going-private, Insolvenz) zeichnete sich eine negative Entwicklung der Unternehmenskennzahlen über die letzten Jahre der Notierung ab, beispielsweise in der Umsatz- und Eigenkapitalrentabilität. Unternehmen stellen die Notierung in aller Regel ein, weil sie nicht länger erfolgreich sind. Es sind nicht die Notierungseinstellungen, die den Notierungsnotstand hervorrufen, es sind die ausbleibenden Notierungsneuaufnahmen. Drei Börsengänge in 2019 sind kaum geeignet, den Trend zu bremsen.Für den Erfolg von Wertpapierbörsen, aber auch von Finanzzentren ganz allgemein, sind Netzwerkeffekte sehr bedeutsam. Eine immer weiter abnehmende Zahl börsennotierter Unternehmen in Deutschland gefährdet den Erhalt bestehender Netzwerkeffekte. Weniger notierte Gesellschaften benötigen weniger Analysten, weniger Börsengänge reduzieren die Zahl der Emissionsbegleiter, und weniger börsennotierte Unternehmen erzeugen weniger Wirtschaftsnachrichten, was den Aufbau und Erhalt von Kapitalmarktkompetenz in der Wirtschaftspresse beeinträchtigen kann.Für den Anspruch, den Frankfurt als internationales Finanzzentrum selbst erhebt und den die Bundespolitik gelegentlich unterstützt, ist das Wegschmelzen der Kurszettel mit seinen Auswirkungen auf die Netzwerkeffekte ein sehr sichtbares Warnsignal, den Sonntagsreden Taten folgen zu lassen, um nachfolgenden Generationen von Sparern und Unternehmen eine intakte Kapitalmarktsphäre zu hinterlassen.—-Prof. Dr. Dirk Schiereck lehrt Unternehmensfinanzierung an der TU Darmstadt. Mitautor des Beitrags und einer jüngst zum Thema veröffentlichten Studie ist Eduard Gaar, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl.In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——-Von Dirk SchiereckFür den Anspruch Frankfurts als internationales Finanzzentrum ist das Wegschmelzen der Kurszettel ein sehr ernst zu nehmendes Warnsignal.