DEVISENWOCHE

Politik und Fundamentalfaktoren

Von Hans-Peter Rathjens *) Börsen-Zeitung, 20.11.2018 Wer Wechselkursanalyse und -prognose zu seinem Beruf erkoren hat, weist starke Ähnlichkeit mit Sisyphos aus, dieser herausragenden und fast jedem bekannte Gestalt der griechischen Mythologie....

Politik und Fundamentalfaktoren

Von Hans-Peter Rathjens *)Wer Wechselkursanalyse und -prognose zu seinem Beruf erkoren hat, weist starke Ähnlichkeit mit Sisyphos aus, dieser herausragenden und fast jedem bekannte Gestalt der griechischen Mythologie. Von Hermes für seine diversen Frevel auf Erden in den Abgrund gezwungen, muss er einen Felsblock auf ewig den Berg hinaufwälzen, der – fast am Gipfel angekommen – jedes Mal wieder ins Tal rollt.Und so ergeht es zumeist dem professionellen Wechselkursbeobachter: Ausgerüstet mit profunder ökonomischer Theorie, modernsten ökonometrischen Methoden in Kombination mit technischer Analyse und viel Arbeitsaufwand muss er sich selbst am Schluss eingestehen, dass es nun leider doch mal wieder anders gekommen ist als gedacht und sich der Wechselkurs nicht prognosegerecht verhält. Und erneut beginnt der Analyseprozess von vorne. Unvorhersehbare EreignisseEs sind immer wieder unvorhergesehene und auf den ersten Blick unvorstellbare politische Ereignisse, die das ausgeklügeltste Gedankengebäude ins Wanken bringen. Jüngstes Beispiel, dessen langfristige Implikationen bei weitem noch nicht absehbar sind: Nach den Wahlen im März und einer längeren Phase des Auslotens von Koalitionen regiert in Italien seit dem 1. Juni eine neue Regierung – ein Bündnis der populistischen Lega und der Fünf-Sterne-Bewegung unter dem parteilosen Ministerpräsidenten Giuseppe Conte. Niemand hatte eine solche Konstellation erwartet, und in Anbetracht des neuen Fiskalkurses, der schlicht und einfach bestehende Verträge und Absprachen zwischen den Mitgliedsländern der Eurozone missachtet, fallen dementsprechend heftig die Reaktionen an den Kapitalmärkten aus: Die Renditedifferenz zwischen zehnjährigen italienischen Staatsanleihen und Bundesanleihen ist in diesem Jahr vom Tiefpunkt bei 113 Basispunkten im Hoch auf 326 Basispunkte gestiegen – also eine Ausweitung um gut zwei Prozentpunkte. Und wie hat sich der Euro gegenüber dem Dollar entwickelt? Lag der Euro im März noch bei rund 1,23 Dollar, so hat er sich inzwischen auf 1,14 Dollar abgeschwächt und sogar vor wenigen Tagen die Marke von 1,12 Dollar getestet.Schaut man weiter in die Vergangenheit zurück, haben sich politische Ereignisse und deren wirtschaftlichen Implikationen sowie Reaktionen der wirtschaftspolitischen Akteure immer wieder in heftigen Wechselkursturbulenzen niedergeschlagen. So war der Jom-Kippur-Krieg, der vom 6. Oktober bis 25. Oktober 1973 dauerte, Auslöser der ersten Ölpreiskrise mit der Folge einer globalen Rezession und eines kräftigen Inflationsschubs. Legt man einen synthetischen – als zurückgerechneten – Euro-Dollar-Kurs zu Grunde, befestigte sich der US-Dollar von 1,82 am 8. Oktober 1973 auf 1,56 am 24. Januar 1974, also um rund 14 % in gut drei Monaten.Am 27. Juni 1975 war er dann wieder auf 1,82 zurückgekehrt. Eine solche Volatilität bringt auch den gewieftesten Analysten an den Rand der Verzweiflung! Heftige KursausschlägeRichtig heftig wird es, wenn wichtige politische, historische Ereignisse in kurzer Zeit aufeinanderfolgen: Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 – Einmarsch des Irak in den Kuwait am 2. August 1990 als Auslöser für den Zweiten Golfkrieg – Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 – Beginn der Kampfhandlungen der Alliierten gegen den Irak am 17. Januar 1991 – Waffenstillstand am 12. April 1991 und damit offizielles Ende des Zweiten Golfkrieges. Beim Fall der Berliner Mauer weist der Dollar einen Stand von 1,19 aus, schwächt sich bis zum 2. August 1990 auf 1,38 und bis zum 17. Januar 1991 auf 1,42 ab. Am Tage des Waffenstillstandes befestigt er sich dann wieder auf 1,29, also um 9,5 % innerhalb von knapp drei Monaten. Asien- und Russlandkrise, die Attentate am 11. September 2001 in den USA, Dritter Golfkrieg, die Insolvenz von Lehmann Brother sowie der Ausbruch der Euro-Schuldenkrise sind weitere Glieder in dieser nicht enden wollenden Kette.Soll der Wechselkursanalyst nun in Anbetracht der Vielzahl nicht-vorhersehbarer Ereignisse die Flinte ins Korn werfen – sich weigern, den Felsblock immer wieder den Berg hinaufzuwälzen? Natürlich nicht! Eine Prognose ist immer an Bedingungen geknüpft. Ein “ceteris paribus” ist Teil der Lebensluft des Analysten und Grundlage jeden soliden Arbeitens.Und es gibt Phasen, da hilft nur das traditionelle Handwerkszeug des Ökonomen: Die richtige Einschätzung von Geld- und Fiskalpolitik, eingebettet in die allgemeine Wirtschaftspolitik, von Haushalts- und Leistungsbilanzdefiziten, von Rohstoffpreisen, von Inflationsentwicklung und Wachstumsverlangsamung oder -beschleunigung. Langfristig sind es nämlich die Fundamentaldaten, die das Geschehen an den internationalen Devisenmärkten treiben. In Richtung 1,10 DollarWas macht also der Euro in den nächsten Wochen? Nun, ökonometrische Analysen zeigen, dass 100 Basispunkte Ausweitung der Renditedifferenz zwischen italienischen und deutschen Staatsanleihen mit einer Abschwächung des Euro um ca. vier Cent einhergeht.Bleibt die italienische Regierung bei ihrem Konfrontationskurs, liegt eine solche Ausweitung bis Jahresende in dem Bereich des Möglichen und der Euro dürfte sich in Richtung in 1,10 Dollar bewegen. Garantiert? Ja – aber natürlich nur “ceteris paribus”.—- *) Hans-Peter Rathjens ist Senior Investment Strategist bei Allianz Global Investors.