Rally mit engem Spitzenfeld

Hausse am Schweizer Aktienmarkt vor allem von den größten Werten getragen, mit kritischen Folgen

Rally mit engem Spitzenfeld

Mit einem Plus von 16,4 % im Blue-Chip-Index SMI erlebt der Schweizer Aktienmarkt ein bislang starkes Jahr. Die für den Markt ungewöhnliche Dynamik wird jedoch weitgehend von nur drei großen Werten, darunter Nestlé, getragen, die von der Nachfrage der Investoren nach solidem Ertragswachstum profitieren.Von Daniel Zulauf, ZürichDie zweite Hälfte des laufenden Börsenjahres begann fast ebenso gut, wie die erste Hälfte zu Ende ging. Der Swiss Market Index (SMI), der die 20 Aktien der wertvollsten Unternehmen an der Schweizer Börse enthält, ist Anfang Juli erstmals auf über 10 000 Punkte geklettert. Seitdem bewegt sich der Index zwar wieder knapp unterhalb des fünfstelligen Bereichs. Doch das ändert nichts an der Tatsache, dass das Schweizer Blue-Chip-Barometer mit einem Plus von 16,4 % in diesem Jahr eine selten gesehene Dynamik zeigt.Der kräftige Kursanstieg der Börsen seit dem Jahreswechsel war nach den heftigen Turbulenzen im Herbst jedenfalls nicht zu erwarten gewesen. Zum damaligen Zeitpunkt deutete noch fast alles darauf hin, dass die Notenbanken in den Industrieländern – allen voran die amerikanische – ihren Weg zur Normalisierung des Zinsniveaus fortsetzen und die Finanzierungsbedingungen für die Wirtschaft weiter straffen würden. Auch die zunehmenden handelspolitischen Spannungen und die unter anderem von der neuen italienischen Regierung frisch verursachten politischen Unsicherheiten im Euroraum sprachen vielmehr für eine Fortsetzung der Achterbahnfahrt der Aktienmärkte als für die allen Unkenrufen zum Trotz eingetretene starke Erholung.Im Schweizer Markt fiel diese Erholung besonders kräftig aus. Der Swiss Performance Index (SPI), der alle 216 an der Schweizer Börse notierten Aktien abbildet, hat seit Jahresbeginn fast 22,5 % zugelegt. Zieht man die Dividenden ab, die in die Gesamtperformance des SPI einfließen, beträgt der reine Kursaufschlag immer noch rund 19 %. Der Median oder Zentralwert, der die Kursperformance einer Aktie wiedergibt, die exakt in der Mitte der SPI-Rangliste liegt, beträgt zwar immer noch respektable, aber doch deutlich bescheidenere 8 %. Dieser statistische Wert zeigt deutlich, dass die aktuelle Börsenhausse weit weniger breit abgestützt ist, als der von den Indizes wiedergegebene arithmetische Durchschnitt suggeriert. Solides Wachstum gefragtEs sind vor allem die drei Schwergewichte Nestlé, Novartis und Roche, die zusammen knapp die Hälfte des Börsenwertes aller Aktien im SPI repräsentieren, die den Markt nach vorne treiben. Mit einer Performance von 27 % seit Jahresbeginn übertreffen die Nestlé-Aktien den Median um mehr als das Dreifache. Auch Novartis (+22 %) und Roche (+11 %) liegen weit über dem Zentralwert. Diese Verzerrung ist kein Zufall. Sie ist Ausdruck der vielen Unsicherheiten, welche die Investoren weltweit in Atem halten. “Nachhaltig solides Ertragswachstum wird in der optimal informierten neuen Welt zu einem immer begehrteren Gut”, liest man im aktuellen Anlagekommentar des Zürcher Vermögensverwalters Albin Kistler. Das langfristig größte Aufwärtspotenzial besäßen deshalb Aktien der global besten Unternehmen mit sicheren und steigenden Ertragsflüssen.Exakt in dieser Kategorie figurieren auch die drei Schwergewichte im Schweizer Markt. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass der Handel mit markenstarken Lebensmitteln in puncto Ertragsverlauf eine ähnlich hohe Verlässlichkeit aufweist wie das Geschäft mit lebenswichtigen Medikamenten. Doch diese Erkenntnis hatten schon viele. Anspruchsvolle Bewertung”Die weltweit starke Nachfrage nach großen Qualitätsaktien führt dazu, dass diese Titel sehr anspruchsvolle Bewertungsniveaus erreicht haben”, sagt der Aktienspezialist und Fondsmanager Martin Schlatter von dem auf die Betreuung institutioneller Gelder spezialisierten Assetmanager Swiss Rock in Zürich. In der Tat: Für eine Nestlé-Aktie bezahlt man aktuell das 30-Fache des Gewinns pro Titel, wie ihn der Konzern für das zurückliegende Jahr ausgewiesen hatte. Nur einmal war die Bewertung in den vergangenen zehn Jahren noch höher. Das war im Frühling 2018, als die Nestlé-Titel nach Bekanntgabe eines enttäuschenden Jahresabschlusses in wenigen Wochen rund 15 % ihres Wertes einbüßten. Klammert man dieses Ereignis aus, sind die Nestlé-Titel heute so teuer wie noch nie, seit sich die Börsen 2009 vom Schock der Finanzkrise zu erholen begannen. Kursmäßig zurückgeblieben seien dagegen besonders viele kleine, industrielastige Firmen, die zwar oft sehr robuste Bilanzzahlen aufweisen, aber keine herausragend Wachstumsdynamik versprechen, weiß Schlatter. Schlechtes Omen Dahinter verbergen sich die Konjunkturbefürchtungen, die unlängst auch die Notenbanken dazu bewogen haben, mit der Normalisierung des Zinsniveaus nun doch weiter zuzuwarten. “Wenn die konjunkturellen Aussichten positiv sind, steigen am Aktienmarkt die Kurse typischerweise in der ganzen Breite deutlich an”, sagt Schlatter. Doch die beliebte Metapher von der Flut, die alle Boote hebt, lasse sich auf die aktuelle Börsensituation eben überhaupt nicht anwenden. Die Spaltung könnte im Gegenteil noch tiefer gehen. In den USA passen die Finanzanalysten ihre Gewinnschätzungen schon seit einigen Wochen mehrheitlich nach unten an. Die jüngsten Spannungen in Europa, die zuletzt auch durch die spektakuläre Gewinnwarnung von BASF verstärkt wurden, sind auch am Schweizer Aktienmarkt kein gutes Omen für die zweite Jahreshälfte.Das gilt umso mehr, als im Schweizer Markt nicht nur die Nestlé-Aktien mit stolzen Preisen glänzen. Das gleitende Kurs-Gewinn-Verhältnis bezogen auf die in den vergangenen zwölf Monaten gezeigten Gewinne beträgt aktuell rund 20, was im internationalen Vergleich klar über dem Durchschnitt liegt. Das ist mit Blick auf die defensive Zusammensetzung des Schweizer Aktienmarktes kein neues Phänomen. Doch es scheint, als habe sich der Bewertungsabstand im Jahresverlauf weiter vergrößert. In der aktuellen PE-Betrachtung liegen der Schweizer Markt und der von den überaus hohen Bewertungen des Technologiesektors angetriebene US-Markt ungefähr gleichauf. Eine Stütze für den Schweizer Markt könnte die ausgeprägte Dividendenfähigkeit der großen, aber auch vieler mittelgroßer und kleinerer Unternehmen darstellen. Die durchschnittliche Dividendenrendite des Marktes liegt mit rund 3 % deutlich über dem US-Niveau (knapp 2 %), aber unterhalb des europäischen Mittels (ca. 3,2 %).