Russland wieder auf dem Radar

Realwirtschaft muss die Erwartungen des Marktes erst noch erfüllen - Aussicht auf sinkende Zinsen

Russland wieder auf dem Radar

Trotz der fundamentalen Wirtschaftskrise hat Russlands Börse an der jüngsten Schwellenländerrally teilgenommen. Nun profitiert sie auch noch vom Wahlsieg Donald Trumps. Aber die Bestätigung durch die Realwirtschaft ist längst überfällig. Einzelne Branchen haben in jedem Fall weiteres Potenzial.Von Eduard Steiner, MoskauBlickt man auf den russischen Aktienmarkt, so lohnt sich in Erinnerung zu rufen, was Patricia Oey, Chefanalystin bei Morningstar, kürzlich über die diesjährige Schwellenländerrally gesagt hat: Diese Rally “gründet nicht wirklich auf fundamentaler Basis”. In Wahrheit sei es so, dass “die Investoren einfach nach Renditen in Märkten suchen, die in den vergangenen paar Jahren eine schlechte Performance gezeigt haben”.Was für die Schwellenländer im Allgemeinen galt, traf auf Russland im Besonderen zu. Auch im Land an der Wolga hat die Börse zuletzt weniger von attraktiven Fundamentaldaten profitiert als vielmehr vom Basiseffekt durch die vorausgehende Schwäche. Über Jahre hatte sich der russische Leitindex RTS in einem breiten Abwärtskanal befunden, der kurz nach Jahresbeginn bei 628,41 Punkten nah an die Tiefststände der Finanzkrisenzeit von 2009 heranreichte. Seit Jahresbeginn freilich ging es bergauf. Der Leitindex Micex für die in Rubel gehandelten Aktien hat um knapp 23 % zugelegt. Der RTS, der die wichtigsten in Dollar gehandelten Aktien abbildet, stieg gar um über 40 %.Zuletzt kam beiden Indizes noch der Sieg Donald Trumps bei den US-Wahlen zugute. Russland verbindet mit ihm die Aussicht auf bessere Beziehungen zu den USA. “Ausländische Anleger haben sofort ihre Investitionen in Russland neu bewertet”, betont Michail Ganelin, Analyst bei Aton. Und die jüngste Einigung der Opec auf Förderkürzungen bei Rohöl beflügelte die Märkte zusätzlich.”2016 war für die russische Börse das beste Jahr seit Langem”, erklärt Wjatscheslaw Smoljaninow, Chefanalyst bei BCS Prime. Aktuell bewegt sich der RTS bei 1 066 Punkten, womit er freilich nach wie vor meilenweit vom Allzeithoch von Mitte 2008 bei 2487,92 Punkten entfernt bleibt. Der Micex markiert indes täglich neue Allzeithochs und erreichte am Dienstag 2 158 Punkte.Dass Russlands Börse davor so lange nach unten geprügelt worden war, lag nicht nur am Ölpreisverfall und den westlichen Sanktionen infolge der Krim-Annexion. Es lag auch an der strukturellen Krise, weil das alte Wachstumsmodell ausgedient hat. Die zunehmende Stagnation war 2015 in eine Schrumpfung des BIP um 3,7 % gemündet. Talsohle durchschrittenDie Talsohle der Krise scheint nun durchschritten zu sein. Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet für 2016 nur noch ein Minus von 0,6 %. Die Rubelabwertung trug wesentlich zur Überwindung der Krise bei. Das erwartete BIP-Wachstum bleibt natürlich schwach und kommt eher einer Stagnation gleich – für 2017 prognostiziert der IWF ein Plus von 1,1 %. So gesehen ist die Börse den realen Entwicklungen vorausgelaufen. “Der Markt ist überbewertet”, hält Smoljaninow fest. Umso entscheidender sei, dass reale Verbesserungen wie Umsatz- und Gewinnsteigerungen im nächsten Halbjahr auch eintreten, damit die Rally gerechtfertigt werde.Immerhin werden offenbar keine geopolitischen Zuspitzungen erwartet, weil Fonds ihre Investoren wieder vermehrt auf Russland einstimmen. Man müsse immer vor Augen haben, dass russische Aktien im Vergleich zu denen anderer Schwellenländer unterbewertet seien, erklärt Dmitri Lukaschow, Analyst bei IFC Markets. Das sieht auch Raiffeisen Capital so, weshalb ihr Portfoliomanager Anton Krawtschenko Russland als Favoriten unter den Schwellenländern für 2017 ausmacht. Seine Argumente: eine im BRIC-Staaten-Vergleich hohe Dividendenrendite von 5 % und die sinkende Inflation, die zu einer Senkung des hohen Leitzinses führen wird.Smoljaninow mahnt zum realistischen Blick: Zwar sei eine Jahresendrally wahrscheinlich, da eine solche historisch zu 60 bis 70 % eingetreten sei, wenn das Jahr bis Dezember bereits gut gelaufen sei. Auch das erste Quartal 2017 lasse noch einiges erwarten, zumal sich eine Zinserhöhung in den USA auf Russland aufgrund der niedrigen Verschuldung nur marginal auswirke. Aber seine RTS-Prognose von 1 080 Punkten auf Zwölfmonatssicht (Konsensprognose: 1 100 Punkte) ergebe für das Land eine “Hold”-Empfehlung: Verkaufen über 1 030 Punkten, Kaufen unter 930 Punkten.Dass von der Innenpolitik vor den Präsidentenwahlen 2018 kein nennenswerter Schub für die Wirtschaft durch unpopuläre Maßnahmen kommen werde, gilt unter Beobachtern als ausgemacht. Daran ändert auch nichts, dass Präsident Wladimir Putin seine Beamten angewiesen hat, einen Entwicklungsplan bis 2025 vorzulegen, der ab 2019 ein stärkeres Wachstum als die Weltwirtschaft garantieren soll. Attraktive BankaktienVor diesem Hintergrund gilt die Bankenbranche als attraktiv, mit der es nach einer katastrophalen Durststrecke wieder bergauf geht. Vor allem die Sberbank, deren Aktie derzeit bei 160 Rubel notiert, erfreut ihre Anleger schon das zweite Jahr in Folge, birgt aber noch Potenzial. BCS sagt weiter “Kaufen” und erhöhte kürzlich das Kursziel von 170 auf 190 Rubel, Citi auf 180 Rubel, UBS auf 196 Rubel. Credit Suisse sagt Halten mit Ziel 165 Rubel. Sberbank gilt als sicherste Anlegeradresse im Sektor, anders als die landesweite Nummer 2, VTB. Gewinne schreiben sie dieses Jahr alle wieder – auch die prominente Privatbank Tinkoff (TCS Group) übrigens, die manchen schon überhitzt scheint, nachdem ihre Aktie seit Jahresbeginn um 240 % gestiegen ist.Fortan auf dem aufsteigenden Ast befinde sich die Immobilienbranche, ist Smoljaninow überzeugt: Favoriten seien die Konzerne LSR und Etalon. In der Tat zeigt sich, dass der Wohnungsmarkt wieder an Fahrt gewinnt, nachdem er im Vorjahr völlig zum Erliegen gekommen war. Trotz anhaltender Einkommensverluste greifen die Leute wieder vermehrt zu Hypothekarkrediten, weil die Zentralbank die Zinsen kontinuierlich senkt. Dazu komme, dass der Staat Immobilienkredite subventioniere und sich das sogenannte Mutterkapital-Programm auszuwirken beginne, wie Karina Artemjewa von der Nationalen Ratingagentur betont.Mit der wirtschaftlichen Erholung wird auch der Retailsektor wieder in Schwung kommen. Seit über zwei Jahren leidet er unter dem Rückgang der real verfügbaren Einkommen. Trotzdem hat er sich als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen. Gekennzeichnet war die Branche dadurch, dass der zweitgrößte Konzern X5 mit einem außergewöhnlich starken Geschäft wieder auf die Poleposition zusteuert. Das Papier, das derzeit bei knapp 31 Dollar notiert, wird so gut wie von allen großen Investmentbanken zum Kauf empfohlen – die Kursziele liegen in der Gegend von 35 Dollar.