Russlands Aktienmarkt glänzt mit hohen Dividenden
Von Eduard Steiner, Moskau
Man muss es in aller Deutlichkeit sagen: Längerfristig sieht es für die russische Wirtschaft nicht gut aus. Die von diversen Wirtschaftsforschungsinstituten geäußerte Prognose, dass dem Land nach mehreren Jahren der Stagnation – das Statistikamt weist für die Jahre 2013 bis 2020 ein jährliches Durchschnittswachstum von nur 0,5% aus – ein weiteres Jahrzehnt der stockenden Entwicklung bevorstehe, wurde dieser Tage von niemand Geringerem als Alexej Kudrin etwas anders, aber eindringlich formuliert: „Wir betreiben noch ein altes Wirtschaftsmodell, das sich schon überlebt hat“, erklärte der langjährige Finanzminister und derzeitige Chef des Rechnungshofes in einem Interview für das Medienhaus RBK. Es sei nicht gelungen, statt des nachfragegetriebenen Modells ein investitionsgetriebenes Modell und einen qualitativeren Export zu etablieren.
Ein noch drastischeres Bild zeichnete Anatolij Tschubais, Kreml-Beauftragter für Kontakte zu internationalen Organisationen. Er sagte dieser Tage, dass Russland durch die globale Abwendung von fossilen Brennstoffen, die „riesige Folgen für den russischen Export“ mit sich brächte, 10% des Bruttoinlandsproduktes verlieren könnte. Dass jedoch der wieder einmal in Aussicht gestellte Ölpreisverfall eine Änderung des Wirtschaftsmodells bewirken sollte, glaubt Christian Putz, russlanderfahrener Gründer der Londoner Investmentfirma ARR Investment Partners, nicht. Eine Veränderung sei nur zu erwarten, wenn jüngere Leute an die Macht kämen, sagt er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Langfristig steht Russland also vor epochalen Herausforderungen. Immerhin sieht es kurzfristig gut aus. Die rasche Erholung nach der Pandemiekrise, die Russland mit einer sparsamen Anwendung von Lockdowns wirtschaftlich besser gemeistert hat als die meisten Staaten der Welt, setzt sich fort und hat sich im zweiten Quartal sogar beschleunigt, wie die Zentralbank in ihrem Bericht zur Geldpolitik darlegte. Die Wirtschaft sei bereits auf das Vorkrisenniveau zurückgekehrt. Zwei Drittel der Industriebetriebe hätten es bereits überschritten. Nur die Ölförderung, die Luftfahrt sowie Hotellerie und Gastronomie lägen noch darunter. Entsprechend hat die Zentralbank die Wachstumsprognose für 2021 auf 4 bis 4,5% erhöht. Für 2022 und 2023 wird ein Tempo nahe am Potenzialwachstum von 2 bis 3% prognostiziert.
Inflation bei 6,5 Prozent
Für den Westen ungewöhnlich hat die Zentralbank auf ihrer jüngsten Sitzung am 23. Juli den Schlüsselzinssatz um einen ganzen Prozentpunkt auf nun 6,5% erhöht. Seit dem 19. März stieg er damit um 2,25 Prozentpunkte an. Die notorisch konservativen Währungshüter ernteten dafür von Unternehmerseite auch Kritik, weil sie den Aufschwung hintertreiben würden. Selbst freilich begründeten sie den Schritt damit, dass die Inflation, die bereits Ende 2020 den Zielwert von 4% deutlich überschritten hatte, inzwischen auf 6,5% gestiegen sei: Das robuste Wachstum der Binnennachfrage übertreffe die Möglichkeiten einer Produktionserweiterung in einer breiten Palette von Sektoren.
Insgesamt hat sich Russlands Wirtschaft in den vergangenen Jahren an die äußeren Schocks der Sanktionen, diverser Ölpreisrückgänge und der Pandemie adaptiert. Die Regierung verfolgt aus Vorsicht einen Sparkurs, so dass die Gold- und Währungsreserven mit 594 Mrd. Dollar nahe am Allzeithoch liegen und die Auslandsverschuldung in der Pandemie zwar stieg, aber doch deutlich unter 20% des BIP blieb. Und insgesamt profitiert das vom Rohstoffexport abhängige Land seit Monaten von der globalen Konjunktur und den hohen Preisen für Rohstoffe – insbesondere für Erdöl, dessen Notierung auf Ein-Jahres-Sicht um knapp 60% und seit Jahresbeginn um 40% zugelegt hat.
Vor diesem Hintergrund ist der auf Rubel lautende Leitindex Moex auf Jahressicht um über 36% und seit Jahresbeginn um 16% auf ein zwischenzeitliches Rekordhoch von 3915 Punkten gestiegen. Der Dollar-Index RTSI legte in denselben Zeiträumen ähnlich stark auf 1695 Punkte zu – womit er nominal zwar noch immer um über 800 Punkte unter dem Allzeithoch von 2008 bleibt, unter Einrechnung der Dividenden aber darüber.
Für Putz Grund genug, derzeit trotz des niedrigen Markt-KGV von knapp 11 keine Neuengagements in Russland zu empfehlen. Denn obwohl das KGV optisch niedrig aussehe, sei es für Russland angesichts der politischen Risiken und des ansehnlichen Ölpreises relativ hoch. Erschütterungen unterschiedlicher Natur können relativ leicht eine Korrektur von durchaus 20 bis 30% auslösen, sagt er. „Bei Russland gilt noch mehr als sonst, dass man in der Panik kaufen muss, wenn die Titel richtig billig sind.“
Das sieht Wjatscheslaw Smoljaninow, stellvertretender Chefanalyst von BCS Global Markets, anders. Angesichts der hohen Rohstoffpreise und des billigen Rubel würden die russischen Konzerne traumhafte Gewinne aus dem Export erzielen, erklärt er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Vor allem besticht der Markt durch seine Dividendenrenditen. So gut wie alle Konzerne haben ihre Ausschüttungen erhöht.“
Schon traditionell galten russische Unternehmen als die weltweit besten Dividendenzahler. Nun aber bieten gerade die Top-Stahlkonzerne Severstal, NLMK, MMK und Evraz Dividendenrenditen von über 20%; der Ölkonzern Lukoil immerhin 12%, die VTB-Bank 11%. Beim weltweit größten Gaskonzern Gazprom werden 10% erwartet. Im Marktschnitt sind es um die 8%. Aber auch unabhängig von den Renditen liegt das Konsensziel für den RTSI bei 1900 Punkten.
Von den Sektoren her ist BCS GM weiterhin überzeugt von Öl und Gas mit den führenden Unternehmen Gazprom sowie Rosneft und Lukoil. Dazu die besagten Stahlkonzerne sowie der Aluminiumkonzern Rusal und der weltweit größte Palladiumproduzent Norilsk Nickel. Schließlich noch der Bankensektor, der unter anderem von der strafferen Geldpolitik der Zentralbank profitiert. Hier allen voran der halbstaatliche Branchenprimus Sberbank, der gerade zu einem landesweit führenden Tech- bzw. E-Commerce-Konzern mutiert. Soeben hat er einen Rekordquartalsgewinn von 325 Mrd. Rubel (3,74 Mrd. Euro) ausgewiesen. Die UBS hat Ende Juli das Ziel für die bei 315 Rubel liegende Sberbank-Aktie von 377 auf 400 Rubel erhöht. Auch hier winkt eine hohe Dividendenrendite von 8%.