GASTBEITRAG ZUR SERIE: ANLAGETHEMA IM BRENNPUNKT (125)

Schneller, höher, weiter

Börsen-Zeitung, 10.7.2020 Das erste Halbjahr 2020 hat die Anleger viele Nerven gekostet. Niemals zuvor sind die Aktienmärkte so schnell so tief gefallen, und niemals zuvor haben sie sich von einem derartigen Kurseinbruch so schnell wieder erholt....

Schneller, höher, weiter

Das erste Halbjahr 2020 hat die Anleger viele Nerven gekostet. Niemals zuvor sind die Aktienmärkte so schnell so tief gefallen, und niemals zuvor haben sie sich von einem derartigen Kurseinbruch so schnell wieder erholt. Die Mitte März ergriffenen Maßnahmen, um mittels Einschränkungen des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens die weitere Ausbreitung von Covid-19 zu verhindern, haben in der Folge zu einem nie dagewesenen Konjunktureinbruch geführt. Der Internationale Währungsfonds geht davon aus, dass die globale Wertschöpfung in diesem Jahr um fast 5 % geringer ausfällt als im Jahr 2019. Erstmals würden alle Regionen gleichzeitig von einer Rezession betroffen sein. Von FAANG-Titeln getragenTrotz der schweren wirtschaftlichen Krise haben sich die Aktien- und Anleihemärkte von ihren zwischenzeitlichen Verlusten weitgehend erholt. An der Wall Street wird der Aufschwung in erster Linie von den großen FAANG-Titeln getragen: Facebook, Apple, Amazon, Netflix und Google bzw. Alphabet haben mittlerweile einen Anteil von rund einem Viertel an der gesamten Marktkapitalisierung des S&P 500. Rund 70 % der übrigen im Index enthaltenen Aktien weisen dagegen seit Jahresanfang eine negative Entwicklung auf. Die Technologiebörse Nasdaq hat zuletzt eine Reihe neuer Rekordmarken aufgestellt, wobei sich die Kurse einiger Unternehmen aus den Bereichen Biotechnologie und Medizinausrüstung in diesem Jahr zum Teil mehr als verdoppelt haben.Ausschlaggebend für die starke Kurserholung war die expansive Geld- und Fiskalpolitik. Notenbanken haben nicht nur die Zinsen gesenkt, sondern umfangreiche und vom Volumen her nie zuvor gesehene Wertpapierkäufe initiiert. Alles in allem summieren sich die Wertpapierkäufe der G10-Notenbanken im letzten halben Jahr auf rund 6 Bill. US-Dollar. Das ist mehr als doppelt so viel wie während der zwei Jahre dauernden Finanzkrise, die Ende 2007 begann. “Whatever it takes”, im Juli 2012 von Mario Draghi zur Handlungsmaxime erhoben, ist mittlerweile rund um den Globus das Maß aller Dinge geworden. Hinzu kommen staatliche Hilfs- und Konjunkturprogramme, die sich auf rund 11 Bill. US-Dollar summieren. Größter Put aller ZeitenDie Notenbanken wollten mit aller Macht die Kurse an den Aktien- und Anleihemärkten stabilisieren, um eine neue Finanzkrise zu verhindern. Dies ist ihnen gelungen – indem sie den wohl größten Put aller Zeiten geschaffen haben. Unterstützung bekommen die Aktienkurse mittlerweile aber auch von den Frühindikatoren. Diese zeigen, dass der wirtschaftliche Tiefpunkt im Mai durchschritten worden ist. Die seitdem erfolgte schrittweise Lockerung der wirtschaftlichen Einschränkungen spiegelt sich beispielsweise in der Verbesserung der Einkaufsmanagerindizes oder auch im Ifo-Geschäftsklimaindex. Auch einige realwirtschaftliche Daten zeigen, dass die erste Phase der konjunkturellen Erholung V-förmig verlaufen ist. Solange es jedoch kein wirksames Medikament oder einen Impfstoff gibt, die in ausreichenden Mengen produziert werden, dürfte eine Rückkehr zur gewohnten Normalität schwierig werden. Dies spricht dafür, dass sich an die erste Phase der V-förmigen Erholung eine zweite, länger anhaltende Phase mit geringerer Konjunkturdynamik anschließen wird.Was bedeutet dies für die Aktienmärkte? Nach der starken Kurserholung in den vergangenen drei Monaten käme eine Konsolidierung im traditionell schwächeren dritten Quartal nicht überraschend. Eine weiter zunehmende Zahl an Neuinfektionen, begleitet von neuen wirtschaftlichen Einschränkungen sowie ein verringertes Tempo bei den konjunkturellen Aufholeffekten könnte den Risikoappetit der Anleger bremsen. Hinzu kommen politische Unsicherheiten, die von der anstehenden US- Präsidentschaftswahl am 3. November ausgehen. Sollte der Demokrat Joe Biden die Wahl gewinnen, könnten zumindest Teile der von Donald Trump beschlossenen Steuerreform rückgängig gemacht werden.Trotz der weiterhin hohen Unsicherheit bleiben jedoch die Geld- und Fiskalpolitik das Fundament des Aufschwungs. Wir fühlen uns an das Jahr 1998 erinnert, als die US-Notenbank unter Alan Greenspan im Herbst drei Zinssenkungen beschloss, nachdem der Hedgefonds LTCM pleitegegangen war und dies zu erheblichen Verwerfungen an den Kapitalmärkten geführt hatte. Seit dieser Zeit spricht man vom “Greenspan-Put”, weil der damalige Notenbankpräsident mit seinen Zinssenkungen einen Absturz der Aktienmärkte verhindert hat. Lang anhaltende BlasenAls sich die Konjunktur danach wieder erholte, versäumte es die Notenbank jedoch, rechtzeitig wieder die Zinsen zu erhöhen. Aufgrund der Sorge vor möglichen Computer-Problemen aufgrund des Jahrtausendwechsels versorgte die Fed die Märkte weiterhin mit üppiger Liquidität – und schuf damit erst die bislang größte Börsenblase und später, als die Zinsen noch tiefer fielen, die größte Immobilienblase aller Zeiten. Das Dax-KGV stieg in der Zeit zwischen Oktober 1998 und Februar 2000 von 20 auf 30, das des S & P 500 legte von 20 auf 25 zu, und das KGV für US-Technologiewerte erhöhte sich sogar von 25 auf fast 50. Nimmt man die Bewertungsausweitung von damals als Maßstab, hätten die Kurse noch deutliches Potenzial, da Blasenbildungen sehr lange anhalten können. In der Vergangenheit sind Bewertungsblasen oft erst dann geplatzt, wenn die Notenbanken die Zinsen erhöht haben – und damit ist für eine ganze Weile nicht zu rechnen. Carsten Klude, Chefvolkswirt von M.M. Warburg & Co. Zuletzt erschienen: Nachhaltige Aktienindizes kommen besser durch turbulente Marktphasen (124), BNP Paribas Asset Management Mit China-Investments mehr Stabilität im Portfolio (123), Berenberg Biotechnologie – eine Branche wird vom Preistreiber zum Weltenretter (122), Pictet Asset Management