Schweizer Aktien scheuen Winter

Die Aussicht auf eine zweite Pandemie-Welle lässt Investoren wieder in defensivere Märkte flüchten

Schweizer Aktien scheuen Winter

Die Akteure am schweizerischen Aktienmarkt fürchten den kommenden Winter – wegen der zweiten Pandemiewelle und der zu erwartenden ökonomischen Folgen. Allerdings gilt die eidgenössische Börse mit Blick auf die an ihr vertretenen Branchen als defensiv, was derzeit von Vorteil sein könnte.Von Daniel Zulauf, ZürichDie Schweiz hat im Winter einiges zu bieten, aber der Aktienmarkt gehört in der kalten Jahreszeit nicht zu den Attraktionen. Zwar zeigen internationale statistische Vergleiche über Jahrzehnte hinweg mit großer Signifikanz, dass Aktien in der Zeit von Oktober bis April die höchsten Gewinne abwerfen. Doch wenn die Investoren an den großen Börsen dieser Welt in Kauflaune sind, lassen viele den Schweizer Markt links liegen. Der Grund für dieses Phänomen ist die Zusammensetzung des Swiss-Market-Index (SMI), der defensiven Werten wie jenen des Nahrungsmittelmultis Nestlé oder jenen der beiden Pharmagiganten Roche und Novartis ein Gewicht von um die 50 % einräumt.Doch bekanntlich kann auch der Oktober sehr stürmisch werden – stürmischer sogar als jeder andere Kalendermonat. Der große Börsenkrach von 1929 fand im goldenen Herbstmonat statt. Ebenso der Crash von 1987 wie auch der Lehman-Kollaps 2008. Nun häufen sich die Signale, dass die Börsenwelt erneut einen turbulenten Oktober erleben könnte. In den USA büßten die wichtigsten Aktienindizes in den vergangenen fünf Tagen zwischen 2 und 3 % ein. In Europa liegen die Verluste sogar bei um die 5 %.Auch der SMI zieht talwärts – allerdings deutlich weniger steil (-1,5 %). Die internationale Investorengemeinde scheint sich just in diesen Tagen auf die besonderen Eigenschaften des Schweizer Marktes zurückzubesinnen – was kein Wunder ist. Vieles deutet darauf hin, dass eine neue Pandemiewelle anrollt. Vor wenigen Tagen vermeldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) den weltweit höchsten Tagesanstieg an Neuinfektionen seit Beginn der Messungen. Betroffen sind auch die größten Industrieländer.In 36 der 52 amerikanischen Bundesstaaten sind die Infektionszahlen wieder im Steigen begriffen. Bevölkerungsreiche Bundesstaaten wie Kalifornien oder Pennsylvania haben das Corona-Regime kürzlich wieder verschärft oder Pläne zur Lockerung in die Schublade gegeben. Ähnliches passiert derzeit auch in Europa.Der hundertfache Dollar-Milliardär und WHO-Sponsor Bill Gates sagte dem “Handelsblatt” unlängst in einem Interview: “Ich bin pessimistisch, was den Herbst betrifft.” Ohne Gegenmaßnahmen würden die Todesraten in vielen Ländern wieder auf das Niveau vom Frühling steigen.Die konjunkturelle Erholung könnte zum Stillstand kommen und die erwartete Gewinnerholung der Unternehmen bremsen. Noch hegt der Markt große Hoffnungen: In der Eurozone rechnet der Analystenkonsens für das kommende Jahr mit einer Zunahme der Gewinne um durchschnittlich 53 %.Vor diesem Hintergrund sehen europäische Aktien mit einem durchschnittlichen Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 15,7 (2021) immer noch relativ günstig aus – zumindest im Vergleich zu den Aktien an der Schweizer Börse. Das mittlere KGV 2021 des Schweizer Marktes liegt aktuell bei 18,5 – eine im historischen Vergleich “recht stolze Bewertung”, weiß Anastassios Frangulidis, Investmentchef der Genfer Privatbank Pictet. Kein ZufallDie Bewertungsdifferenz ist schnell erklärt: Von den Schweizer Unternehmen werden 2021 Gewinnsteigerungen von durchschnittlich lediglich 17 % erwartet. Trotzdem sind die Schweizer Aktien gemessen am SMI im Lauf der vergangenen zwölf Monate um 3 % gestiegen, während beispielsweise der Euro-Stoxx-50-Index um mehr als 11 % gefallen ist. Ein Zufall ist das natürlich nicht. Die Pandemie hat europäische Firmen im laufenden Jahr weit härter getroffen als Schweizer Firmen. Die Gewinne der Euro-Unternehmen dürften 2020 nach aktuellem Analystenkonsens um durchschnittlich 38 % einbrechen, während die Ergebnisse der Schweizer Firmen im Mittel nur um 9 % zurückgehen sollten.Gewiss, die überdurchschnittliche Resilienz des Schweizer Aktienmarktes hängt stark mit dem hohen Gewicht einiger Großkonzerne zusammen. Doch dieses Argument allein wird dem Markt nicht gerecht. Vor allem im Finanzsektor, der wertmäßig immer noch rund ein Fünftel des Gesamtmarktes repräsentiert, ist die Qualität der Unternehmen seit der Finanzkrise deutlich gestiegen. Dieser Befund wird unter anderem durch die guten Halbjahresabschlüsse der beiden Großbanken UBS und Credit Suisse gestützt. In der Assekuranz haben sich die Schäden der Pandemie bislang vor allem im Ergebnis von Swiss Re manifestiert.Dennoch haben die Aktien der Unternehmen aus dem Finanzsektor in der ersten Pandemiewelle im Startquartal des Jahres die mithin schlechtesten Performancewerte abgeliefert (vgl. Tabelle). Auch die Titel der Uhren- und Schmuckhersteller Richemont und Swatch Group waren im Zug des ersten großen Lockdowns in China heftig unter Druck geraten. Nun bringt die wiederaufflammende Angst der Investoren vor einem neuerlichen ökonomischen Stillstand ein fast identisches Bild hervor. Finanzwerte schwachIn den vergangenen fünf Tagen haben Schweizer Finanztitel im (gewichteten) Mittel 7 % verloren. Konsumgüterwerte büßten knapp 4 % ein, während der gewichtige Chemie- und Pharmasektor leicht (0,3 %) zulegte. Die defensiven Qualitäten der Schweizer Börse, wie sie in der bisherigen Jahresperformance deutlich sichtbar werden (vgl. Tabelle) sind offensichtlich wieder ganz en vogue. Pictet-Investmentchef Frangulidis geht davon aus, dass diese Investorenpräferenz noch eine Weile so bleiben wird. Mindestens bis zu den US-Wahlen Anfang November rechnet er mit anhaltenden “Störungen” im Markt – er ist bei weitem nicht der Einzige, der so denkt. Die Schweiz kann nur hoffen, dass der unerwartet gute Start der Börse in die Wintersaison kein schlechtes Omen für den Skitourismus ist.