Türkei steht unter gewaltigem Druck

Währung taumelt von Rekordtief zu Rekordtief - Interventionen schröpfen die Devisenreserven

Türkei steht unter gewaltigem Druck

Der rasante Verfall der türkischen Lira übertrifft die Prognosen der Experten. Eine Gemengelage aus negativen Realzinsen, schrumpfenden Devisenreserven und politischen Risiken bringt das Land finanziell zunehmend in Bedrängnis. Nun erwarten Beobachter drastische Schritte der Zentralbank. Von Wolf Brandes, FrankfurtAm neunten Tag in Folge ist die türkische Lira von Rekordtief zu Rekordtief gerutscht. Der Dollar stieg im Gegenzug auf bis zu 8,5457 Lira. Am Abend lag der Kurs bei 8,4366 Lira. Damit wurden die Prognosen der Devisenexperten glatt überholt. Seit Jahresanfang hat die Lira 42 % verloren. Allein im Oktober büßte sie 7,5 % gegenüber dem Dollar ein. Das war der stärkste monatliche Rückgang seit der Währungskrise 2018. Verglichen mit anderen Schwellenländerwährungen ist der Abstieg der Lira beispiellos.Hintergrund der anhaltenden Kursschwäche sind die gemessen an den Leitzinsen hohen Inflationsraten, die wirtschaftliche Schwäche des Landes sowie die rückläufigen Währungsreserven. Die Inflation für Oktober hat sich nach aktuellen Zahlen auf 11,9 % erhöht. “Auch in diesem Jahr erwartet die Zentralbank eine hohe Inflationsrate von mehr als 12 Prozent, die nicht durch einen steigenden Leitzins gebremst wird. Effektiv ist der Realzins somit negativ, Sparen lohnt sich weder für lokale noch internationale Investoren. Dadurch fließen internationale Gelder stetig ab, was die Währung weiter unter Druck bringt”, so Sebastian Kahlfeld, Fondsmanager der DWS.Für eine Enttäuschung am Markt hatte zuletzt die überraschende Entscheidung der türkischen Notenbank gesorgt, die Zinsen nicht anzuheben. Aktuell liegt der Leitzins bei 10,25 %. Die Zentralbank hatte den Satz im September noch um 2 % erhöht. Vorangegangen war eine lange Phase der Zinssenkungen. “Das Zögern der türkischen Zentralbank, eine deutliche Zinserhöhung vorzunehmen, ist sicherlich ein sehr schlechtes Zeichen für die Märkte. Um eine Wiederholung der Währungsprobleme von 2018 zu vermeiden, hätte die Zentralbank entschlossen handeln müssen. Jetzt ist alles möglich”, meint Sebastian Petric von RBI. Bedenkliche Großwetterlage”Die ausgebliebene Leitzinsanhebung vergangenen Monat ist sicherlich ein Treiber. Bedeutsamer ist aber die ,Großwetterlage’, die wir seit Jahren haben: Leistungsbilanzdefizite, einen Präsidenten, der Leitzinsanhebungen verhindert, schrumpfende Devisenreserven – kurz vor dem Offenbarungseid”, sagt Thomas Meißner von der LBBW.Marktteilnehmer gehen davon aus, dass in den vergangenen Monaten über die staatlichen türkischen Banken Interventionen am Devisenmarkt in Höhe von mehreren Milliarden Dollar stattfanden, eine enorme Belastung für die Währungsreserven des Landes. Die Devisenreserven der Zentralbank haben sich seit Jahresanfang auf 42,8 Mrd. Dollar halbiert (siehe Grafik). Nach Angaben der Türkei sind die Reserven aber mehr als ausreichend, um die kurzfristigen Verbindlichkeiten des Landes zu erfüllen.In Anbetracht der Lira-Krise hat die türkische Notenbank einen Teil ihrer in Gold gehaltenen Währungsreserven verkauft. Der Goldbestand des Landes reduzierte sich im September um 46 Tonnen, wie der World Gold Council berichtete. Das entspricht einem Wert von mehr als 2 Mrd. Dollar. Damit warf die Türkei innerhalb eines Monats fast acht Prozent ihrer in Gold gehaltenen Währungsreserve auf den Markt.Nicht zuletzt sorgen politische Querelen immer wieder für Unsicherheiten an den Märkten. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte am vergangenen Wochenende die Schuld am Kursverfall der Lira und an den wirtschaftlichen Problemen der Türkei von sich und seinem Land weggeschoben. Erdogan zufolge führt sein Land einen Krieg gegen eine “unheilige Dreieinigkeit” aus Wechselkursen, Inflation und Zinsen. Verantwortlich für dieses “Teufelsdreieck” sind nach Auffassung des türkischen Präsidenten Dritte. “Unsere Antwort auf diejenigen, die daran arbeiten, unsere Volkswirtschaft zu belagern, ist ein neuer Krieg ökonomischer Befreiung”, sagte Erdogan.”Die türkische Lira hat seit einigen Jahren ein Glaubwürdigkeitsproblem. Auch wenn die Zentralbank offiziell von der Politik unabhängig ist, so ist ihre ,unorthodoxe` Theorie doch stark geprägt von politischen Interessen”, so DWS-Portfoliomanager Kahlfeld. Sanktionen befürchtetDer weitere Verfall der türkischen Währung auch am Tag der US-Wahl veranlasst Analysten zu der Einschätzung, dass es selbst nach einem Wahlsieg des demokratischen Kandidaten Joe Biden zu Spannungen zwischen Ankara und Washington kommen könnte. Die Unsicherheit im Vorfeld der US-Wahlen hatte die Risikofreude der Investoren und damit die Nachfrage nach riskanteren Anlagen gedämpft. Unabhängig vom Ausgang der Wahl sieht sich die Türkei mit möglichen Sanktionen der USA wegen des Kaufs eines russischen Raketensystems konfrontiert.”Auch wenn die Abwertung der türkischen Lira für die zahlreichen Exporteure in der Türkei sehr förderlich ist, überwiegen doch die Probleme, die immer schwieriger zu lösen sind”, sagt Kahlfeld. Marktbeobachter rechnen nun mit drastischen Schritten der Zentralbank. Goldman Sachs hält eine Erhöhung der Leitzinsen auf 17 % bis zum Jahresende für möglich.