Katharine Neiss und Andreas Billmeier

Vorbild für den gesamten Euroraum

Die Bundestagswahl wirft auch an den Finanzmärkten ihre Schatten voraus. Zwei Volkswirte legen im Gespräch mit der Börsen-Zeitung dar, auf welche Folgen sich die Anleger einstellen müssen.

Vorbild für den gesamten Euroraum

Von Kai Johannsen, Frankfurt

In rund anderthalb Wochen steht die Bundestagswahl vor der Tür. Dieses Mal hat sie einen noch höheren Stellenwert als sonst ohnehin schon, da auch eine neue Kanzlerin bzw. ein neuer Kanzler an die Spitze Deutschlands treten wird. An den Märkten heißt es aber oftmals, dass politische Börsen nur kurze Beine haben, ihr Einfluss auf die Marktentwicklung also nicht lange andauert. Für Katharine Neiss, europäische Chefvolkswirtin bei PGIM Fixed Income, könnte das nun aber anders sein. „Sowohl die kurz- als auch die langfristige Entwicklung könnte davon betroffen sein. Kurzfristig bedeuten die wahrscheinlich lange andauernden Koalitionsgespräche, dass es für die Märkte schwieriger ist, das Wahlergebnis ex ante einzupreisen, so dass es zu einer gewissen Volatilität kommen könnte“, sagt sie im Gespräch mit der Börsen-Zeitung.

Deutlicher Wandel

In den vergangenen 18 Monaten habe sich in Deutschland ein deutlicher Wandel hin zu einer Lockerung der Haushaltspolitik vollzogen, wie z. B. die vorübergehende Aussetzung der Schuldenbremse, aber es gebe erhebliche Unterschiede in Bezug auf den Umfang der künftigen Steuerausgaben. „So sprechen sich SPD und Grüne für eine grundlegende Steuerreform und höhere Klimaausgaben aus, während CDU/CSU und FDP dafür plädieren, die derzeitige Politik des finanzpolitischen Konservatismus beizubehalten“, sagt sie.

Ihres Erachtens hat das Wahlergebnis wichtige langfristige Auswirkungen auf europäischer Ebene, wo die Steuerreform in Deutschland als Vorbild für den gesamten Euroraum dienen könnte und dazu beiträgt, eine zentrale Bruchlinie in der Union zu beseitigen und die Wahrscheinlichkeit eines Auseinanderbrechens des Euroraums weiter in den Hintergrund zu drängen.

Abweichung vom Politikmix

„Wahlen können langfristige Auswirkungen haben. Dies gilt insbesondere zum gegenwärtigen Zeitpunkt, an dem die Bekämpfung des Klimawandels zu einer Generationenfrage geworden ist“, sagt Andreas Billmeier, europäischer Volkswirt bei Western Asset Management, die zu Franklin Templeton gehören, im Gespräch mit dieser Zeitung. Einige der möglichen Koalitionen könnten eine deutliche Abweichung vom aktuellen Politikmix bedeuten. „Wir glauben auch, dass die Notwendigkeit, zum ersten Mal eine Drei-Parteien-Koalition auf Bundesebene zu bilden, zu Verzögerungen und einem vorübergehenden Anstieg der Unsicherheit und letztendlich zu höheren Ausgaben führen wird“, ergänzt der Kapitalmarktexperte.

Kurzfristige Herausforderung

Eine Reihe von politischen Kon­stellationen wird derzeit an den Märkten durchgespielt mit verschiedenen Favoritenrollen. „Die Anleger vertreten eine Reihe von Ansichten, und so lässt sich der Markt vielleicht am besten als Ausdruck eines Gleichgewichts zwischen denjenigen, die einen größeren fiskalischen Impuls anstreben, wie die SPD und die Grünen, und denjenigen, die sich mehr auf die Beibehaltung eines fiskalischen An­kers konzentrieren, wie die CDU/CSU und die FDP, beschreiben“, sagt Neiss. In Anbetracht der kurzfristigen Herausforderung, einen nachhaltigen Aufschwung nach der Pandemie zu sichern, tendiere das Gleichgewicht derzeit vielleicht eher zur ersten Gruppe.

Stärkere Anreize würden ihrer Ansicht nach Aktien stützen, was vielleicht durch die Aussicht auf höhere Steuern und Regulierung ausgeglichen wird. „Und eine Zunahme des Angebots an Bundesanleihen in Verbindung mit einem wirtschaftlichen Impuls durch Konjunkturmaßnahmen könnte die Zinsen nach oben treiben. Bei Unternehmensanleihen werden die sektoralen Auswirkungen weiterhin dominieren, wobei eine Bottom-up-Bewertung erforderlich ist, um Gewinner und Verlierer zu ermitteln“, führt Neiss weiter aus. Bei Kandidaten, die eher für Kontinuität der Politik unter Merkel stünden, bestehe die Gefahr, dass sie die Unterstützung zu früh einstellen und dadurch das Wachstum auf das niedrige Niveau vor der Covid-Krise zurückkehre. Folge wäre eine höhere Marktvolatilität und eine damit verbundene Flucht in sichere Assetklassen, die das Gefüge der Union weiter belasten würde.

Keine Bevorzugung am Markt

Unter den unterschiedlichen Investorentypen wie Versicherer, Pensionsfonds, Assetmanager/Banken etc. stellt Neiss keine unterschiedlichen präferierten Regierungen in Deutschland fest. Billmeier ergänzt: „Wir sind der Meinung, dass es nicht den einen bevorzugten Kanzler gibt, und die Aktienmärkte können sich von den Rentenmärkten unterscheiden. Allerdings schätzen die Finanzmärkte Kontinuität – beide aktuellen Koalitionsparteien stehen dafür.“ Letztendlich seien solide öffentliche Finanzen, starke Investitionen und Wachstum das Resultat gut laufender Wirtschaft, die der Markt in der Vergangenheit belohnt habe. Auf der anderen Seite werde die Bewältigung des Klimawandels die Marktrenditen auf lange Sicht steigern.

Klima im Blick

„Da Versicherer und Rückversicherer finanziell unter extremen klimawandelbedingten Wetterereignissen leiden, gehen wir davon aus, dass sie diesem Thema einen hohen Stellenwert einräumen werden“, sagt Billmeier. Andere Marktteilnehmer werden seiner Einschätzung nach von einer konservativen Fiskalpolitik und einem weitgehend unveränderten Steuerrahmen profitieren. „Wieder andere könnten aus einem schnelleren Abschluss der europäischen Integrationsprozesse, einschließlich der Bankenunion, Vorteile ziehen“, führt er aus.

Kleinere Abweichungen gibt es in der Beurteilung der Frage, ob es Unterschiede in den einzelnen europäischen Regionen hinsichtlich dieser Bewertung gibt. „In den vorigen 18 Monaten hat sich in der europäischen Politik ein spürbarer Wandel vollzogen. Die Vorstellung: Im Norden wird gespart, und im Süden werden höhere Defizite angehäuft, ist nicht mehr unbedingt zutreffend. Die jüngsten Ereignisse haben den Bürgern im Norden vor Augen geführt, dass niedrige Defizite, die zu einem Mangel an öffentlichen Investitionen führen und auf Kosten des Klimawandels gehen, nicht wirklich gut für künftige Generationen sind“, sagt die Chefvolkswirtin. Die Bereitschaft, Geld auszugeben, um zu investieren, wenn es ei­nen eindeutigen sozialen Nutzen gebe, der künftigen Generationen zu­gute kommt, scheine also größer zu sein.

Auf der anderen Seite waren die südlichen Volkswirtschaften laut Neiss trotz der Auslösung der Ausweichklausel für die fiskalischen Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts im Frühjahr 2020 recht gezielt und zurückhaltend, wenn es darum ging, fiskalische Soforthilfe zu leisten.

Sehr klares Bild

„Regierungen von gleicher politischer Ausrichtung finden immer Unterstützung über Staatsgrenzen hinweg. Allerdings werden die politischen Prioritäten innerhalb der europäischen Parteienfamilien unterschiedlich bewertet; auch persönliche Beziehungen spielen hierbei eine Rolle“, ergänzt Billmeier zu diesem Aspekt. Alles in allem zeichne sich kein sehr klares Bild ab. „Aber wir glauben, dass dies auch damit zusammenhängt, dass Kanzlerin Merkel nicht mehr auf dem Stimmzettel steht. Zudem liegen drei Parteien in den Umfragen ungefähr gleichauf, was auf mangelnde politische Sichtbarkeit hindeutet“, so Billmeier.

Sollte die von den Märkten am stärksten präferierte Regierung tatsächlich zustande kommen, sollten bestimmte Branchen am Aktienmarkt auch stärker profitieren als andere. „Alles, was mit der grünen Transformation und der Digitalisierung zu tun hat, wird wahrscheinlich einen weiteren Schub erhalten. Auch Infrastruktur und Anbieter von Konsumgütern könnten unterstützt werden“, sagt Neiss. Es sei zu erwarten, dass eine EU-freundliche deutsche Führung auch Auswirkungen auf die Peripherie des Euroraums haben werde und dazu beitrage, dass die Spreads von Staatsanleihen eng bleiben werden.

Schleichende Entwicklung

Andere Branchen dürften dagegen das Nachsehen haben, wenn es zu be­stimmten Konstellationen kommt. „Öl und auf Kohlenstoff basierende Energie werden sich wahrscheinlich in einem schwierigeren Geschäftsumfeld wiederfinden. Eine stärkere Konzentration auf die Integration könnte auf Kosten einer stärker nach innen gerichteten EU gehen, was beispielsweise für Exporteure außerhalb der EU, einschließlich Unternehmen, die von China abhängig sind, eine Herausforderung darstellt“, meint Neiss. Dies sei eine schleichende Entwicklung, die sich im Laufe der Zeit vollziehen könnte, aber wahrscheinlich keine kurzfristigen Auswirkungen haben werde.

Und welche Regierungskonstellation wird aus Sicht der Märkte am wenigsten favorisiert? „Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass Regierungen, die darauf abzielen, das europäische Projekt zu untergraben oder rückgängig zu machen, zu erheblichen Marktspannungen führen können, die die politischen Entscheidungsträger vor echte Herausforderungen stellen“, so Neiss. Angesichts der Größe und des hohen Grades der europäischen Integration in die Weltwirtschaft würde ein solcher Schock der Expertin zufolge zudem globale Auswirkungen haben.

Nervöse Märkte

„Die Finanzmärkte werden nervös, wenn grundlegende Annahmen, die das Marktgeschehen und die Renditen beeinflussen, in Frage gestellt werden. Ich kann es mir nicht vorstellen, dass eine Randpartei – selbst, wenn sie Teil der Regierung wäre – ausreichend Einfluss hätte, um diese Art von Unsicherheit zu erzeugen“, ergänzt Billmeier hierzu. Allerdings würden einige Koalitionen weniger „marktfreundliche“ Ergebnisse erzielen als andere, insbesondere wenn ein zu enger Regulierungsrahmen die Geschäftstätigkeit und Innovation beeinträchtigen würde.

Und welche Branchen würden dann noch profitieren und welche nicht, wenn es zur aus Marktsicht weniger favorisierten politischen Konstellation kommt? „In einem solchen Szenario würden wir eine Flucht in sichere Anlagen erwarten und die Notwendigkeit, dass die Zentralbanken eingreifen“, prognostiziert Neiss.

Beschlossene Sache

Viele Marktakteure stellen sich auch die Frage, welche politische Konstellation aus Sicht der Märkte für einen deutschen Green Deal am ehesten angesagt wäre und welche Konstellation am wenigsten. „In Deutschland sind die Ausgaben zur Bewältigung des Klimawandels beschlossene Sache, ganz gleich, welche Koalition sich durchsetzen wird. Was auf dem Spiel steht, ist das Ausmaß der Ambitionen und die Geschwindigkeit dieses Übergangs sowie die Führungsrolle und der Einfluss Deutschlands auf EU-Ebene“, konstatiert Neiss.

„Wir glauben, dass die stärkste Koalition in diesem Zusammenhang eine von den Grünen geführte wäre – aus unserer Sicht ein unwahrscheinliches Ergebnis angesichts der aktuellen Umfragen“, führt Billmeier weiter aus. An zweiter Stelle steht aus seiner Sicht eine Koalition zwischen SPD und Grünen sowie einer weiteren Partei, wahrscheinlich die Linke oder die CDU. „Wir glauben, dass jede Regierung mit FDP-Beteiligung in diesem Bereich weniger erreichen wird – dafür aber das Thema Sanierung der Staatsfinanzen vorantreiben würde“, führt Billmeier weiter aus.

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