Wall Street fürchtet sich vor der Fiskalklippe
Die Wall Street hat auf die Wiederwahl von US-Präsident Barack Obama negativ reagiert. Da sich die Machtverhältnisse im Kongress nicht verändert haben, wird davon ausgegangen, dass sich die Chancen auf eine Einigung im Steuer- und Ausgabenstreit nicht vergrößert haben.Von Dieter Kuckelkorn, FrankfurtEigentlich sollte Wall Street die Wiederwahl von US-Präsident Barack Obama feiern. Demokratische Präsidentschaften waren in der Vergangenheit im Durchschnitt mit höheren Gewinnen am Aktienmarkt verbunden als republikanisch dominierte Regierungsperioden. Zudem haben Obama und sein Notenbankchef Ben Bernanke, den die Republikaner vehement ablehnen, weder Mühen noch Kosten gescheut, die US-Märkte und die Wall-Street-Häuser mit Liquidität zu versorgen, um auf diese Weise die Folgen der Finanzkrise zu überwinden. Gleichwohl war die erste Reaktion aufdas Ergebnis der Wahlen negativ.Der US-Benchmark-Index Standard & Poor’s 500 (S & P 500) sowie der Dow Jones Industrial Average sackten um rund 2 % ab.Dafür gibt es im Wesentlichen einen Grund: Die Wahlen haben die Aussicht, dass es zu einer Einigung der beiden politischen Parteien im Ausgaben- und Steuerstreit kommen könnte, so dass die US-Volkswirtschaft nicht auf die so genannte fiskalische Klippe auflaufen würde, nicht verbessert. Wie die Analysten von Credit Suisse ausgerechnet haben, drohen dem Land Anfang 2013 automatische Steuererhöhungen von 420 Mrd. Dollar sowie Ausgabenkürzungen von 109 Mrd. Dollar. Dies würde sich auf sage und schreibe 5,1 % des Bruttoinlandsprodukts belaufen und damit unweigerlich eine ausgeprägte Rezession herbeiführen. Da sich die Kräfteverhältnisse im Kongress mit einem republikanisch dominierten Repräsentantenhaus und einem demokratisch kontrollierten Senat nicht verändert haben, sehen viele Anleger die USA auf die Katastrophe zusteuern, zumal der erzkonservative Sprecher des Repräsentantenhauses, der Republikaner John Boehner, ganz kurz vor der Wahl noch einmal unterstrichen hatte, es werde keinen Kompromiss hinsichtlich der von Obama geforderten Steuererhöhungen für die obersten Einkommensgruppen geben. In tiefe Sinnkrise gestürztAllerdings mehren sich unter den Analysten diejenigen Stimmen, die davon ausgehen, dass der Wahlausgang die Chancen für einen Kompromiss vielleicht doch verbessert haben könnten. Dafür spreche, dass das Scheitern Romneys die “Grand Old Party” in eine tiefe Sinnkrise gestürzt habe. Auf der anderen Seite könnte ein gestärkt aus den Wahlen hervorgehender Obama zu weitgehenden Kompromissen bereit sein. So erwarten die Strategen der Credit Suisse (CS), dass noch in der “Lahme-Ente-Periode” bis zum 3. Januar eine grundsätzliche Einigung erfolgen könnte. Man werde sich auf Verlängerungen der strittigen Punkte bis Ende 2013 einigen und in dieser Zeit die Details in Ruhe aushandeln. Bei der CS verweist man auf die Ära Clinton, in dessen zweiter Amtsperiode auch deutlich mehr Kooperation mit dem politischen Gegner stattgefunden hat.Allerdings könnte eine Einigung Bremsspuren am Aktienmarkt hinterlassen. So sei die von Obama angestrebte Erhöhung der Steuer auf Dividenden für Einkommen ab 200 000 Dollar pro Jahr von 15 % auf 39,6 % und von Kapitalerträgen von 15 auf 20 % nur zu Hälfte im S &P 500 eingepreist, betont man bei der CS. Der noch nicht eingepreiste Effekt senke den fairen Wert der Unternehmen im Index um durchschnittlich 2,5 %. Auch das könnte die negative Reaktion der Wall Street erklären.Auf der anderen Seite sollte der Wahlsieg Obamas dem Aktienmarkt zumindest mittelfristig Rückenwind verleihen. So unterstützen die Demokraten die Geldpolitik der weit offenen Schleusen der Fed, die von weiten Kreisen der Republikaner abgelehnt wird. Ein Machtwechsel in Washington hätte auch einen Wechsel an der Spitze der Fed nach sich gezogen und damit wohl eine restriktivere Geldpolitik. Zudem ist davon auszugehen, dass Obama bei der Sanierung des Staatshaushalts weniger stark die Massenkaufkraft schwächen und die Staatsausgaben verkleinern dürfte als ein republikanischer Präsident. Allerdings wird sich Obama der Forderung von Steuersenkungen widersetzen, von denen der Aktienmarkt profitieren würde.Hinsichtlich der Frage, welche Branchen am Aktienmarkt von der Fortsetzung der Ära Obama profitieren werden und daher bevorzugt werden sollten, raten die meisten Analysten zu einem Mehr des Bisherigen. Von der Einführung der halbstaatlichen Krankenversicherung für niedrigere Einkommensgruppen dürfte der Healthcare-Sektor weiter profitieren. So hat der Krankenversicherer Unitedhealth Group seit 2008 um 73 % zugelegt, der Pharma-Konzern Pfizer um 70 %. Besonders gut entwickelt haben sich Biotech-Firmen wie Alexion Pharma, die ihren Wert mehr als verdreifacht hat. Trotz der Immobilienkrise haben die Aktien aus dem Bereich des Häuserbaus kräftig zugelegt. Sie wurden von der Regierung gefördert, weil sich ihre Arbeitsplätze nicht ins Ausland verlagern lassen. Mit dem beginnenden Aufschwung des Häusermarktes sollten sie noch mehr profitieren. Energiewerte dürften ebenfalls weiter gefragt sein, weil sie hohe Dividenden an Inhaber der staatlich geförderten Pensionssparpläne zahlen. Allerdings könnte gerade ihnen zunächst die geplante höhere Besteuerung der Dividenden zu schaffen machen. Positiv entwickelt haben sich auch Aktien aus den Bereichen Technologie und Mobilkommunikation, da die Obama-Administration hier keine neuen Regulierungen eingeführt hat.